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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Ost-West-Richtung von der Bastille bis zu den Tuilerien. Alles, was außerhalb dieses Gebietes lag, war Faubourg , das Land. Das Zentrum von Paris war die Ile-de-la-Cité inmitten der beiden Seinearme, wo sich die Kathedrale Notre-Dame, das Hôtel Dieu (das öffentliche Krankenhaus) und der königliche Palast, der von Ludwig dem Heiligen erbaut worden war, befanden. Das rechte Flußufer, dessen Bebauung die alten Stadtgrenzen überschritten hatte, war die Seite des Handels, der Industrie, der großen Märkte und vornehmen Wohnsitze. Das linke Seineufer war weniger besiedelt und wurde von der Universität beherrscht. Einer Steuerübersicht aus dem Jahre 1292 zufolge hatte die Stadt damals 352 Straßen, elf große Kreuzungen, zehn Plätze, fünfzehn Kirchen und 15 000 Steuerzahler. Fünfzig Jahre später, zu den Zeiten Marcels, betrug die Gesamtbevölkerung nach der Pest etwa 75 000 Einwohner.
    Die Hauptstraßen waren gepflastert und breit genug, um zwei Gefährte gleichzeitig passieren zu lassen, der Rest der Straßen war eng, schlammig und übelriechend mit einem in der Mitte fließenden Abflußkanal. Für den Durchschnittsbürger war der normale
Müllabladeplatz die Straßenmitte, und in den Unterschichtsvierteln lagen vor jeder Haustür Haufen von Unrat. Die Hausbesitzer hatten eigentlich die Pflicht, die Abfälle zu den Sammelgruben zu schaffen, und wurden durch Verordnungen immer wieder ermahnt, die Straße vor ihrem Haus sauberzuhalten.
    Verkehrsstaus verstopften die schmalen Straßen, wenn schwerbepackte Maultiere auf Träger trafen, die gebückt unter ihren Tragen mit Holz oder Holzkohle gingen. Die Schilder von Gasthäusern behinderten den Verkehr, denn sie hatten wie auch die Ladenschilder gigantische Ausmaße, weil man glaubte, damit die Käufer anlocken zu können, und weil es den Geschäftsinhabern verboten war, etwaige Kunden anzurufen, bis diese den benachbarten Laden verlassen hatten. Ein Zahnzieher machte durch einen Zahn in der Größe eines Lehnstuhls auf sich aufmerksam, ein Handschuhmacher mit einem Handschuh, an dem jeder Finger groß genug war, um ein Baby zu wärmen.
    Die im Wind klappernden Ladenschilder wetteiferten im Lärm mit den Rufen der Straßenverkäufer, den Schreien der Maultiertreiber, dem Hufklappern der Pferde und den Stimmen der öffentlichen Ausrufer. Paris beschäftigte sechs Hauptausrufer, die vom Vorsteher ernannt wurden, jeder von ihnen hatte einige Assistenten, die zu den Kreuzungen und Plätzen der verschiedenen Viertel ausschwärmten, um ihre Nachrichten unter das Volk zu bringen. Offizielle Verlautbarungen wie über Steuerbestimmungen, Messen, Märkte und Festlichkeiten, aber auch privatere Angelegenheiten wie Hausverkäufe, vermißte Kinder, Hochzeiten, Beerdigungen, Geburten und Taufen wurden von ihnen ausgerufen. Wenn der Wein des Königs auf den Markt kam, gaben die Ausrufer auch das bekannt, und die Wirte mußten ihre Weinstuben schließen, damit jedermann zuerst den Wein des Königs kaufte.
    Als Hauptstadt mit einer großen Universität beherbergte Paris eine turbulente Horde von Studenten aus ganz Europa. Sie waren privilegiert und nicht der örtlichen Gerichtsbarkeit unterstellt, sondern direkt dem König, was bedeutete, daß ihre Verbrechen und Verstöße meist straffrei blieben. Sie lebten im Elend, zahlten hohe Miete für schmutzige Zimmer in schlechten Vierteln. Sie saßen auf hohen Hockern in kalten Hörsälen, die nur von zwei
Kerzen erhellt waren. Die Studenten hatten einen schlechten Ruf. Klagen wegen ihrer ausschweifenden Lebensweise, wegen Vergewaltigung, Raub und »anderer Exzesse, die Gott zuwider sind«, häuften sich.
    Obwohl Oxford als Zentrum intellektuellen Lebens wachsende Geltung genoß, war die Universität von Paris immer noch theologischer Schiedsrichter von Europa, und die Bibliotheken ihrer verschiedenen Fakultäten erhöhten ihren Ruhm. Hinzu kamen die großartige Bibliothek von Notre-Dame und nicht weniger als 28 Buchhändler, die offenen Buchstände nicht eingeschlossen. Hier gab es »überfließende Quellen von Büchern«, schrieb ein hingerissener Besucher aus England, »welch ein mächtiger Strom an Vergnügen erfreute unser Herz, als wir Paris besuchten, das Paradies der Welt«. [Ref 129]
    Sonntags ruhte die Arbeit. Jedermann ging in die Kirche, und danach versammelten sich die einfachen Leute in den Weinhäusern, während die Bürgerfamilien in den Faubourgs spazierengingen. Hier standen die Häuser weniger dicht gedrängt und

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