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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Der Arzt, mit dem er diesmal sprach, war freundlicher und zugänglicher als der vom Vormittag. Esther war bei Bewußtsein, sie konnte sprechen, sehen, hören, die Finger und Arme leicht bewegen, nur die Beine waren gefühllos. Zwei Lendenwirbel gebrochen. Was das hieß, war klar. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Esther den Rest ihres Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Auch wenn der Arzt über die Zukunft von Esther weder etwas sagen wollte noch konnte. Es seien noch zahlreiche Untersuchungen notwendig, um eine endgültige Diagnose abgeben zu können.
    Nach dem deprimierenden Telefonat setzte er sich auf den Hocker neben dem Telefon und vergrub seinen Kopf zwischen den Händen. Noch gestern um diese Zeit war Esther durch die Wohnung gewirbelt. Noch gestern hatte Esthers Schandmaul nicht stillgestanden. Noch gestern war er überzeugt gewesen, daß sie ihn irgendwann mit Scherer betrogen hatte. Noch gestern hatten sie sich geliebt. Und jetzt? Auf einmal zählte nichts mehr. Er wollte sie nicht allein lassen. Er merkte, wie sehr er sie brauchte. Er würde alles tun, um ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Er würde das Haus umbauen, einen Treppenaufzug einbauen. Er würde Reisen mit ihr unternehmen, Bernd und Dieter waren alt genug, das Geschäft für eine Weile allein zu führen.
    Allmählich beruhigte er sich, wischte die Tränen aus den Augen und trank einen Schluck Wasser. Dann ging er hinüber in die Werkstatt zu Bernd und Dieter. Die beidenwaren so sehr in ihre Arbeit vertieft, der Lärm so stark, daß sie ihn nicht kommen hörten. Um die grellen Lampen kreisten unzählige Mücken. Bernd schnitt Holz zu, während Dieter, drei Nägel zwischen den Zähnen, einen schlichten Sarg aus Kiefernholz zusammenzimmerte.
    »Ich habe eben mit dem Krankenhaus telefoniert«, schrie Pickard in den Krach der Säge hinein. Bernd sah kurz auf, nickte. Dieter, der etwa drei Meter entfernt stand, hörte ihn nicht. »Mutter geht es wieder besser! Sie kann nur ihre Beine noch nicht bewegen! Ob sie gelähmt bleibt, können die Ärzte erst in ein paar Tagen genau sagen! Bis dahin können wir nur hoffen und beten!«
    Bernd schaltete die Säge ab, kam auf seinen Vater zu und nahm ihn in den Arm. »Du solltest dich jetzt erst mal unter die Dusche stellen und was essen. Es wäre nicht gut, wenn du auch noch schlappmachen würdest. Und selbst wenn Mutter im Rollstuhl nach Hause gefahren wird, dann ist sie ja immer noch da. Wir sehen sie, sprechen mit ihr, sie wird irgendwann wieder lernen zu lachen, und irgendwie wird das Leben weitergehen. Sie wird leben, und das ist doch die Hauptsache, oder? Und bevor ich’s vergesse – Nathanael Phillips ist tot. Er liegt in der Kühlhalle. Der Doktor hat mir nicht verraten, was passiert ist, und wir dürfen auch vorläufig unter keinen Umständen darüber reden, daß Nathan tot ist. Ich hab ihn mir aber mal angesehen, ich finde, er sieht genauso aus wie jemand, der sich aufgehängt hat.«
    »Scheiße!« sagte Pickard nur und löste sich aus Bernds Umarmung. Einen Moment lang dachte er über Nathan nach. Dann wurden diese Gedanken von Esther verdrängt. Er hätte jetzt jemanden gebraucht, dem er seine momentanen Gefühle anvertrauen konnte. Was letzte Nacht vor dem Unwetter zwischen ihm und Esther gewesen war. So etwas würde es nie wieder geben. Er hatte keine Lust zum Duschen,keine Lust sich zu rasieren. War es denn nicht egal, wie er aussah?
    Er duschte doch, er rasierte sich, er aß. Und er fühlte sich tatsächlich eine winzige Spur besser.
     
    Die Hofer Zeitung erschien diesmal ausnahmsweise mit einer Spätausgabe. Es gab nur ein Thema – den Tornado.
    Ein vielleicht vierzehnjähriger Junge in Turnschuhen, Jeans und T-Shirt stand auf dem Marktplatz, einen Stapel Zeitungen über den Arm gelegt, auf einem kleinen Handwagen lag noch mal die gleiche Menge. Brackmann kannte den Jungen vom Sehen, er lebte mit seiner Familie auf einem Bauernhof knapp einen Kilometer südlich von Waldstein.
    »Gib mir bitte eine«, sagte Brackmann zu dem Jungen, der aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien.
    »Bitte.«
    »Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung?«
    Der Junge sah Brackmann verdutzt an. »Wie meinen Sie das?«
    »Na ja, hat der Tornado alles stehengelassen?«
    »Ach so«, meinte der Junge, während er wieder eine Zeitung an einen vorbeikommenden Mann ausgab, »nicht alles, aber das meiste. Mein Vater sagte, wir kriegen das schon wieder hin. Und wenn mein Vater das sagt,

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