Der Finger Gottes
Schlaf. Wie sieht’s bei Ihnen und ihrer Familie aus? Alles in Ordnung?«
»Sie wissen es noch nicht? Scheiße! Esther liegt im Krankenhaus. Ich will sie gerade besuchen gehen.«
»Ist sie schwer verletzt?« fragte Brackmann ernst und legte den Stift beiseite. Pickard wirkte traurig, angeschlagen, das Verschmitzte war aus seinen Augen verschwunden.
»Sie wird wahrscheinlich nie mehr laufen können. Irgendwas hat ihr das Kreuz zerschmettert. Zwei Lendenwirbel sind gebrochen.«
»Das tut mir leid, ehrlich. Aber ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn alles, was mir einfällt, hört sich bestimmt dumm an.«
Pickard winkte ab. »Ich will auch gar keine Mitleidsbekundungen hören. Ich wollte es Ihnen nur sagen, mehr nicht.«
»Auch wenn es abgedroschen klingt, Ihre Frau lebt. Viele der Toten liegen doch in Ihrer Leichenhalle, oder? Und es sind leider viele Kinder unter den Opfern. Das ist besonders traurig.«
»Sie haben recht, ich weiß ja selbst, wie schwer es manche getroffen hat, und trotzdem muß ich mit meiner neuen Situation irgendwie fertigwerden.« Er erhob sich von seinem Stuhl und schaute Brackmann an. »Ich mach mich dann mal auf die Socken und schau nach, was Esther so macht.«
»Alles Gute, und grüßen Sie sie von mir.«
Pickard nickte nur. Kurz bevor er durch die Tür trat, hielt ihn Brackmanns Stimme zurück. »Ich hätte da noch eine kurze Frage . . . Wie gut kennen Sie die Vandenbergs?«
Pickard drehte sich nicht um, zuckte nur mit den Schultern und meinte mit schleppender Stimme: »Nicht besonders gut, warum?«
»Was meinen Sie mit – nicht besonders gut?«
»Eben nicht besonders gut.«
»Aber Sie kennen sie?«
»Nun, ich erledige dann und wann ein paar kleinere Arbeiten für sie. Warum fragen Sie?«
»Nur so. Es hat mich nur so interessiert.«
»Ich verstehe nicht . . .?«
»Vergessen Sie’s. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Und grüßen Sie Ihre Frau von mir.«
Pickard schloß leise die Tür hinter sich. Pickard gab wenigstens zu, ab und zu für sie zu arbeiten. Und doch war es nicht die ganze Wahrheit, sonst hätte er ihn dabei angesehen. Wer in diesem Ort log eigentlich nicht?
Im Krankenhaus ging es zu wie in einem Termitenbau, in den Gängen Bett an Bett, viele der Verletzten und Kranken hingen an Infusionsschläuchen, manche schliefen, manche waren bewußtlos. Viele hatten Verbände am Kopf, an Armen oder Beinen oder um den Leib, die wenigsten stöhnten vor Schmerzen, nur ihre Blicke zeigten, was sie fühlten; wer schlief, hatte Glück, doch viele konnten nicht schlafen, entweder wegen der Schmerzen oder wegen des hektischen Treibens um sie herum. Einen Teil der Patienten kannte Pickard persönlich, wie die fünfzehnjährige Judith Weiß, beide Arme und ein Bein in Gips, der Kopf um die Stirn herum dick bandagiert. Er war nicht sicher, ob sie vom Tod ihrer Eltern wußte, vermied es, zu ihr zu gehen; er wollte nicht gefragt werden.
Angehörige versuchten, Trost zu spenden, Schwestern, Pfleger und Ärzte hetzten durch die dichtbevölkerten Gänge, ständig ertönten aus Lautsprechern Durchsagen, die Luft war heiß und stickig.
Er hielt eine Schwester an. Sie war abgehetzt, wirkte gereizt. »Eine Frage nur«, sagte er. »Ich suche meine Frau, Frau Pickard. Wissen Sie zufällig, wo sie liegt?«
»Hören Sie, guter Mann, seit gestern liegen hier zehn- oder zwanzigmal so viel Patienten wie sonst! Fragen Sie bei der Anmeldung, die sind dafür zuständig. Tut mir leid, ich habe keine Zeit.« Sie rauschte davon, verschwand hinter einer Tür, über der das Schild »Operation, nicht stören« leuchtete.
Pickard reihte sich in die Schlange derer ein, die beim Pförtner um Auskunft anstanden.
»Pickard, sagen Sie? Moment.« Der Mann ließ den Finger über die Liste gleiten, bis er den Namen fand.
»Hier ist sie. Sie liegt im zweiten Stock, Zimmer sechsundzwanzig. Gehen Sie am besten über die Treppe, mit dem Aufzug werden Sie im Augenblick wenig Glück haben.«
»Danke«, sagte Pickard und schob die Tür zum Treppenhaus auf. Wie in Trance nahm er je zwei Stufen auf einmal, sein Herz begann zu rasen. Im zweiten Stock das gleiche Bild wie unten, Bett an Bett, von Schmerz gezeichnete Gesichter, hilfesuchende Blicke.
Was sollte er sagen, wenn er in ihr Zimmer trat? Du meine Güte! dachte er, ich habe ganz vergessen, Blumen zu besorgen! Jetzt war es zu spät, sie würde ihm hoffentlich verzeihen.
Einen Moment blieb er vor der Tür stehen. Kalter Schweiß hatte sich in seinen
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