Der Finger Gottes
Handflächen gebildet, sein Herz raste noch immer. Er klopfte an, keine Antwort. Er trat einfach ein. Sie lag mit drei anderen Frauen im Zimmer. Zwei schliefen, die dritte las in einem Buch, und Esther . . . siehatte den Kopf zum Fenster hin gedreht, bemerkte nicht, wie er auf ihr Bett zukam und sich auf den Stuhl setzte.
»Hallo, Esther«, flüsterte er und berührte vorsichtig ihren linken Arm. Dann stellte er die Tasche auf den Boden.
Sie wandte den Kopf langsam in seine Richtung, ein kurzes Aufleuchten in ihren Augen.
»Hallo«, kam es zurück, kaum hörbar, das Aufleuchten war schon wieder dieser traurigen Leere gewichen. »Den hast du lange nicht angehabt«, sagte sie und meinte seinen Anzug.
»Nur für dich.« Ihre Hand lebte, sie war warm.
»Wie geht es dir?«
»Als wenn du es nicht längst wüßtest!«
»Ich habe heute noch mit keinem Arzt gesprochen.«
»Ich kann nicht mehr laufen. Wahrscheinlich werde ich es nie wieder können. Auch wenn der Arzt gesagt hat, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Nein, du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Für dich nicht, für mich nicht, schon gar nicht für Bernd und Dieter. Wir werden alles tun, damit es dir gutgeht.«
Sie drückte seine Hand. »Ich will wieder laufen können, mehr will ich nicht. Weißt du, ich kann mir auf einmal gar nicht mehr vorstellen, daß sie mich all die Jahre über getragen haben sollen. Ich weiß nicht einmal mehr, was vorgestern nacht passiert ist.«
»Ein Tornado, sagen die Leute . . .«
Esther lachte kurz auf. »Weißt du noch, vorgestern, als wir zu Abend gegessen haben . . . ich habe dich gefragt, ob ein Tornado auch bei uns durchkommen könnte . . . Und weißt du noch, was du darauf geantwortet hast?«
Pickard nickte. »Es war eine Katastrophe, keiner hat damit gerechnet. Sie sagen, daß es Tornados normalerweise bei uns nicht gibt, aber . . . sie haben sich getäuscht. Leider.«
»Wie sieht es in Waldstein aus?«
»Eine einzige Katastrophe. Ich weiß nicht genau, wie vieletot sind, aber es sind, soviel ich weiß, weit über hundert und natürlich sind viele verletzt. Ich bin so froh, daß du am Leben bist. Und morgen werde ich dir auch Blumen mitbringen. Ich hab sie in der Aufregung ganz vergessen. Und wenn du irgendwelche Wünsche hast . . . Welcher Schrank ist deiner?«
»Der ganz linke, warum?«
»Ich habe dir Unterwäsche und Nachthemden mitgebracht. Ich sortier sie ein, bevor ich gehe.«
»Danke. Wie geht es den Jungs?«
»Gut. Wenn sie nicht gewesen wären . . .«
»Was dann?«
»Nun, dann hätten wir es womöglich nicht rechtzeitig bis zum Krankenhaus geschafft.«
Esther wollte gerade etwas erwidern, als die Tür aufging. Ein Arzt, ein Pfleger und eine Schwester kamen herein.
»Wer sind Sie?« fragte der Arzt unfreundlich.
»Georg Pickard.«
»Besuchszeit ist eigentlich erst ab zwei. Aber gut, wenn Sie schon hier sind, können wir auch gleich miteinander reden. Ihre Frau hat Ihnen schon berichtet?«
»Nein«, Pickard schüttelte den Kopf.
»Nun, wir haben vorhin mit Ihrer Gattin gesprochen und ihr gesagt, daß es vorerst keine Möglichkeit gibt, ihr zu helfen. Wir haben noch einmal Aufnahmen des Rückens gemacht, müssen jetzt aber Ihre Frau von Spezialisten in München untersuchen lassen. Wir haben hier einfach nicht die Untersuchungsmöglichkeiten, die sie dort haben. Die Ärzte dort können sicher auch besser entscheiden, ob eine Operation in Frage kommt und wie die Heilungsaussichten sind. Ihre Frau wird noch morgen nach München gebracht. Sie können sich im Arztzimmer die Telefonnummer und Adresse geben lassen.«
»Wie sehen Sie die Chancen für meine Frau –«
»Tut mir leid, aber ich sagte doch schon, ich bin kein Spezialist für Wirbelsäulen, ich bin ein ganz normaler Stationsarzt. Und weil wir hier in Münchberg Ihre Frau nicht behandeln können und jedes verfügbare Bett brauchen . . . ich brauche Ihnen wohl nicht mehr zu erklären. Sie sehen ja selbst, was auf den Fluren los ist. Außerdem, je früher eine richtige Untersuchung und eine eventuelle Operation durchgeführt werden, desto erfolgversprechender sind die Aussichten.«
»Das heißt, es besteht Hoffnung?«
»Guter Mann, ich bin der falsche Mann für Prognosen! Verstehen Sie das doch bitte!«
Danach wandte der Arzt sich Esther zu. »Ich möchte Sie noch einmal kurz untersuchen.« Er schlug die Bettdecke hoch, fuhr mit einem Stift über die Fußsohle erst des rechten, dann des linken Fußes. Keine Reaktion. »Haben Sie
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