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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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war gefallen. Danach hatte er sie fast jeden Tag begleitet, war bisweilen den Nachmittag über bei ihr geblieben, und allmählich hatte sie alles von ihm erfahren, daß er keine Mutter mehr hatte, daß sein Vater von frühmorgens bis spät am Abend arbeitete. Weil Johnnys Leistungen in der Schule ungenügend waren, hatte Angela ihm ihre Hilfe angeboten. Und irgendwann hatte sie sich in ihn verliebt. Sie war gerade fünfzehn geworden.
    Eines Tages war Johnny nicht mehr gekommen. Sie hatte auf ihn gewartet, war zu ihm nach Hause gegangen, das Haus war leer. Sie hatte geweint, zwei Tage lang. Eine ganze Woche später war der Brief gekommen. Sein Vater hatte eine Stelle in Florida bekommen, eine halbe Weltreise entfernt für eine Fünfzehnjährige. Johnny hatte es schon lange vorher gewußt, sich aber nicht getraut, es ihr zu sagen. Auf einer ganzen Seite hatte er immer wieder nur »Ich liebe Dich« geschrieben, mal in roter, mal in blauer, mal in schwarzer Tinte.
    Sie sah ihr Zimmer vor sich, die hellblauen Tapeten mit den zartgelben und zartrosa Blümchen darauf, ihre Lieblingspuppe Fräulein Meier, die sie selbst dann noch heiß und innig liebte, als ihr die Augen fehlten, sie nur noch ein Bein und einen Arm hatte, und die jetzt in irgendeiner Kiste auf dem Speicher begraben lag. Sie sah die Birke vor ihrem Fenster, aus deren Ästen sie im Frühling und Sommerder Gesang der Vögel weckte. Dort war ihr nie etwas passiert, in dieser großen Stadt, in diesem wilden Land. Jetzt lebte sie in diesem kleinen weltvergessenen Marktflecken, abseits vom großen Trubel, und ausgerechnet hier . . . Wäre sie doch nur in Boston geblieben, wäre sie doch nicht dem Ruf gefolgt, ihre Heimat, ihre Wurzeln kennenlernen zu wollen!
    Mit einem Mal war da der Ruck, der sie durchflutende Schmerz, das unbeherrschte Stoßen, das plötzliche Verharren, die warme Flüssigkeit, die in sie gepumpt wurde. Die Realität hatte sie wieder, Tränen des Schmerzes liefen auf das Bett.
    Er lag auf ihr, keuchend, sabbernd. Der Ekel wurde unerträglich. Sie hätte diesem gottverdammten Schwein am liebsten ins Gesicht gespuckt, ihm seine gottverdammten Eier rausgerissen, damit er nie wieder eine Frau anrühren konnte. Angst. Auf einmal rollte er sich ab, blieb wie sie auf dem Rücken liegen. Die Messerspitze drohte ihr nicht mehr. Dennoch war sie unfähig, sich zu rühren. Sie hätte aufspringen, loslaufen, schreien, alles mögliche tun können . . . Sie blieb einfach reglos neben ihm liegen. Stilles, bizarres Wetterleuchten erhellte in immer kürzeren Abständen das Zimmer, sie hätte nur den Kopf zu drehen brauchen, um die Umrisse des Mannes zu sehen, der sie mißbraucht hatte. Sie wollte es nicht. Ihr tränenloser Blick war starr zur Decke gerichtet.
    »Es tut mir leid.«. Seine Stimme klang auf einmal nüchtern. Sekunden, wie eine Ewigkeit, verstrichen. Sie versuchte zu antworten, setzte an, ihre Kehle war verschlossen. Nach einer Weile versuchte sie es erneut.
    »Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie mir das angetan?«
    Schweigen.
    »Es tut mir leid. Ich habe Sie doch nur beobachtet, die ganzeZeit über, nichts weiter. Nur beobachtet!« Er schluchzte leise. »Ich wußte doch alles über Sie!«
    »Warum ich?«
    »Weil Sie die schönste Frau der Welt sind!«
    Er kann noch nicht alt sein, dachte sie mit plötzlich klarem Verstand, vielleicht zwanzig. Aber egal, wie alt er ist, er ist ein verdammtes Schwein! Keine Entschuldigung. Niemals. Keine Seife dieser Welt wird das je wegwaschen können.
    »Ich werde jetzt gehen, und bitte«, er machte eine Pause, erhob sich vom Bett, stand vor ihr, ein großer, schmaler, schwarzer Schemen, das Hochziehen des Reißverschlusses seiner Hose dröhnte in ihren Ohren, »bitte, verzeihen Sie mir.« Es war, als läge alle Qual, Schuld und Last dieser Erde in seiner Stimme. Dann: »Bitte drehen Sie sich um, legen Sie sich auf den Bauch, die Hände auf den Rücken.« Er holte zwei gleichlange Schnüre aus seiner Hosentasche, fesselte Angela Siebeck an Händen und Füßen, nicht zu fest, er wollte ihr ja nicht weh tun. Er warf einen letzten Blick auf Angela, rannte zur Tür, riß sie auf, stürmte hinaus.
    Sie blieb noch eine Weile wie gelähmt auf dem Bett liegen, die Augen geschlossen. Alles schmerzte an und in ihr, sie hatte das Gefühl, über und über, von außen wie von innen, von üblem, stinkendem Morast bedeckt zu sein. Sie war wieder allein, allein mit sich, ihrer Angst, der Verzweiflung, dem Schmutz. Sie hatte

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