Der Finger Gottes
sich schnell von ihren Fesseln befreit, blieb auf dem Bett sitzen. Sie weinte, erst leise, dann etwas heftiger, schließlich wurde sie durchgeschüttelt von gewaltigen Wellen körperlicher Beben. Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Um elf Uhr schlich sie auf wackligen Beinen zum Bad, wusch sich fast eine halbe Stunde lang. Sie fühlte sich nicht mehr so schmutzig, äußerlich, doch etwas in ihr war zerbrochen. Vielleicht der Glaube an die Menschen, vielleicht dieStärke, die zu besitzen sie stets überzeugt gewesen war, vielleicht ihr Stolz. In einem plötzlichen Anfall von Haß, während sie in den Spiegel blickte und ihr nasses Gesicht, die nassen Haare, die rotgeweinten Augen sah, verfluchte sie alle Männer dieser Welt, diese schwanzbesetzten Ungeheuer, warf den Waschlappen mit aller Wucht gegen das Glas, er rutschte auf den Zahnputzbecher, der mit lautem Scheppern ins Waschbecken fiel. In ihrem ganzen verdammten Leben wollte sie nichts mehr mit Männern zu tun haben. Mit keinem, nicht einmal mit Brackmann! Sie stellte sich vor, er könnte sie berühren – Ekel! Und trotzdem – was blieb ihr auch schon anderes übrig, wenn sie wollte, daß das Schwein geschnappt wurde – schlich sie zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeibüros.
Nach dem Anruf bei Schmidt hielt sie den Hörer noch lange in der Hand, sah ihn an, durch ihn hindurch, über ihn hinweg, ließ ihn einfach zu Boden fallen. Stellte sich ans Fenster, öffnete es weit. Wetterleuchten. Unerträgliche Schwüle.
Schmidt erschien abgehetzt und durchgeschwitzt fünf Minuten nach ihrem Anruf. Es war fast Mitternacht. Übermorgen würde es in der Zeitung stehen. Die Sensation von Waldstein. Ein Kriminalfall. Der erste echte seit dreißig oder vierzig oder hundert Jahren. Eine Sensation, so war Schmidt überzeugt, die noch auf Jahre hinaus für Gesprächsstoff sorgen würde. Eine Vergewaltigung, Wahnsinn! dachte er. Und ich habe Dienst! Das Telefon läutete, gerade als Schmidt die Tür des Büros hinter sich zuzog. Er hörte das Klingeln, doch es konnte sich um nichts auch nur annähernd so Spannendes handeln wie das, was Angela Siebeck widerfahren war. Er nahm das Wetterleuchten kaum wahr, als er sich in seinen Wagen setzte und startete.Er hatte die Tür einfach ins Schloß fallen lassen. Mit schnellen, von Furcht getriebenen Schritten rannte er die Treppe hinunter, durch die Eingangstür, hinüber zu dem dunklen Weg, zum Baum, nahm die Flasche Whisky, trank einen Schluck, sprang über einen Zaun, huschte katzengleich durch Gärten – er hatte gelernt, den Weg blind zu laufen –, stolperte einigemal, fiel aber nicht, rannte, bis er es endlich geschafft hatte.
Er lehnte an der Mauer, seine Lungen schmerzten, Seitenstechen. Er war kein Sportler, er hatte sich nie viel aus Sport gemacht. Instinktiv suchte er den kühlen Stahl des Messers, fand ihn nicht. Entsetzen packte ihn, Panik, seine Gedanken überschlugen sich, er dachte daran, zurückzugehen und zu suchen, verwarf den Gedanken wieder, weil er genau wußte, daß sie längst Brackmann alarmiert hatte. Was ihm blieb, war die vage Hoffnung, sie würden das Messer nicht finden. Hoffentlich hatte er es nicht im Haus verloren oder gar bei ihr liegengelassen. Morgen früh würde er es suchen. Leiser Donner begleitete ihn auf dem Weg in das unbeleuchtete Haus.
Seine Eltern und seine kleine Schwester schliefen. Dicke Teppiche schluckten seine Schritte, niemand bemerkte ihn, wahrscheinlich glaubten sie, er wäre den ganzen Abend über in seinem Zimmer gewesen, nachgesehen hatte mit Sicherheit keiner, es war lange her, seit sie sich um ihn gekümmert hatten. Er zog sich aus, hing Hemd und Hose ordentlich zusammengelegt über die Stuhllehne, wusch sich kurz den Schweiß vom Gesicht, legte sich aufs Bett. Jeder Nerv, jede Sehne, jeder Muskel seines Körpers vibrierte.
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schlief nicht ein. Angela Siebeck. Ihr Bild tanzte vor seinen Augen, hundertfach, tausendfach, wie ein riesiges Kaleidoskop. Die Furcht, ihre Furcht, machte ihn fast wahnsinnig. AngelaSiebeck, die schönste Frau von Waldstein. Sie tat ihm leid, sie tat ihm mehr leid, als jemals irgendein anderer Mensch zuvor. Die Schuld legte sich wie ein dichter, schwarzer, undurchdringlicher Schleier über ihn. Allmählich lichteten sich die Nebel, er begriff, was er getan und angerichtet hatte. Er stand wieder auf, trank einen Schluck Whisky, Schuldverdrängung, noch einen und noch einen. Die Schuld
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