Der Finger Gottes
haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Leuten die größtmögliche Sicherheit zu bieten, und was ist passiert? Aber gut, gut, sagen Sie mir, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, daß Waldstein von . . . einem Tornado heimgesucht wird.«
Anders ignorierte den Spott in Phillips’ Stimme. »Nun, das ist schwer zu beurteilen. Siebzig zu dreißig, vielleicht auch nur sechzig zu vierzig.«
»Oder fünfzig zu fünfzig . . . zehn zu neunzig?«
»Wie gesagt, wir sind nicht sicher.«
Phillips lachte wieder meckernd. »Tornados, Tornados! Tornados gibt es bei uns nicht! Und Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, daß ausgerechnet heute nacht und ausgerechnet in Waldstein . . . Wissen Sie eigentlich, wie groß Waldstein ist? Hier leben gerade mal etwas über zweitausend Leute, Waldstein ist nicht mal einen Quadratkilometer groß und auf kaum einer Landkarte zu finden. Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ein Tornado ausgerechnet hierher käme. Also, das wär’s ja dann wohl.«
Phillips knallte den Hörer auf die Gabel, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Seine Frau stand in der Tür.
»Wer war das?« fragte sie gähnend, an den Türrahmen gelehnt. Sie trug ein knöchellanges Negligé, unter dem sichihr straffer, voller Busen mit den erigierten Brustwarzen und dem großen dunklen Hof deutlich abzeichnete.
»Ach, nichts weiter!« er winkte genervt ab, »bloß das Wetteramt in Nürnberg.«
»Das Wetteramt? Was wollen die denn mitten in der Nacht von uns? Etwa den neuen Wetterbericht durchgeben?«
»Ich sage dir doch, Schatz, es ist nichts weiter. Geh wieder schlafen.«
»Na gut, du mußt es ja wissen.« Sie machte kehrt, während er noch einen Moment neben dem Telefon stehenblieb.
Tornados, Tornados! Idioten, verdammte! Tornados in Waldstein, ausgerechnet hier!
Er lief die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, holte eine Flasche Maltwhiskey aus dem Schrank, schenkte das Glas halbvoll, gab eine Handvoll Eiswürfel dazu. Er zog die Stirn in Falten, setzte das Glas an, leerte es in einem Zug. Ging wieder nach oben, legte sich neben seine Frau. Sie schnarchte leise.
Währenddessen versuchten die Meteorologen vom Wetteramt weiter fieberhaft, das Polizeirevier zu erreichen. Bürgermeister Phillips hatte jegliche Unterstützung verweigert, und jemanden von einer anderen Stadt aus auf den Weg zu schicken, schien im Augenblick zu gefährlich, da sich bereits mehrere starke Gewitter entwickelt hatten und man nicht sicher war, wo genau, wenn überhaupt, ein Tornado sich bilden würde.
Sie ließen sich von der Auskunft die Nummer des Arztes geben. In knappen Worten schilderten sie ihm die Lage, baten ihn, den diensthabenden Polizisten zu finden und ihn zu veranlassen, mit Lautsprecherwagen durch die Stadt zu fahren, um die Menschen vor dem möglichen Unwetter zu warnen. Dazu wurden mehrere Anweisungen gegeben, was die Leute tun sollten, falls es tatsächlich zu einem Wetter-Supergaukam. Erstens die Fenster öffnen, damit der Tornado nicht einen Unterdruck entstehen und die Häuser wie aufgeblasene Papiertüten zerplatzen ließ; zweitens sollte man sich, sofern vorhanden, in Kellern in Sicherheit bringen. Und drittens, sollten keine Keller vorhanden sein, dann sollte man sich entweder im Erdgeschoß aufhalten oder besser noch sich ins Freie begeben und sich in eine Bodenvertiefung wie etwa einen Straßengraben legen, mit dem Gesicht nach unten.
Reuter tippte mit der linken Hand kurz auf die Gabel des Telefons, wählte die Nummer der Polizei. Keine Verbindung. Er versuchte es bei Brackmann zu Hause, nervös klopfte er mit den Fingern auf die Tischplatte, kalter Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
»Brackmann!« Gerade eine Stunde war vergangen, seit er endlich eingeschlafen war. Reuter überging Brackmanns verständlichen Zorn, berichtete kurz und knapp von dem Gespräch mit dem Wetteramt. Dann, für einen Moment, atemlose Stille.
»Wo, zum Teufel, ist Schmidt?«
»Keine Ahnung, er scheint im Moment nicht erreichbar zu sein.«
»Ich bin in fünf Minuten fertig.« Brackmann zog sich an, nahm die Milch aus dem Kühlschrank, trank die Packung in einem Zug leer, warf die Tüte in den Müllbeutel, drehte den Wasserhahn auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht.
Die Luft schien mit unsichtbaren elektrischen Teilchen geladen, ein allmählich aufkommender Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln, ein Vogel piepste zaghaft. Wetterleuchten. Donnergrollen begleitete ihn auf dem Weg ins Büro. Der Streifenwagen von
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