Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
zufrieden: Sie wollten sicherstellen, dass sich ihr Land wirklich zur Demokratie entwickelt. Die arabische Jugend machte unmissverständlich klar: Es reicht! Die jungen Leute wünschen sich ein anderes Leben als ihre Eltern. Statt zu resignieren, riskieren sie lieber bei den Protesten den Zorn der Mächtigen. Jetzt sind unsere Kinder an der Reihe, die Millionen Arbeitslosen, die Millionen prekär Beschäftigten, die unser Wirtschaftssystem hervorgebracht hat. Auch sie haben nichts anderes zu verlieren als ihre Ketten.
Viele von ihnen sind gerade dabei, uns eine Lektion zu erteilen. Sie sind in einer materialistischen Gesellschaft aufgewachsen mit dem Motto »Ich konsumiere, also bin ich«. Sie orientierten sich am schlechten Vorbild ihrer Eltern, die Besitztümer anhäuften und Ressourcen verschwendeten. Doch die Jugend wendet sich von diesem Modell ab, das künftigen Generationen kein Auskommen mehr bietet. Die Empörten Europas sehen – im Gegensatz zu ihren Eltern – Überfluss nicht als Wert an. Sie stehen vielmehr für Prinzipien wie begrenztes Wachstum, nachhaltiger Konsum und Sparsamkeit. Ihre Forderungen sind bescheiden: Sie wollen wohnen, arbeiten, eine Familie gründen und ein nachhaltiges Leben führen. Kreditkarten, alle zwei Jahre ein neues Auto oder Urlaub in exotischen Gefilden – das alles interessiert sie nicht. Und sie lehnen es ab, Banken zu retten. Das können sie sich auch leisten, denn zum Sparen hatten sie ohnehin nie Gelegenheit.
Die Mittelschicht war das Rückgrat des demokratischen Staates und des Wohlstands der Nachkriegszeit: Sie finanzierte ihn mit ihren Steuern und Ersparnissen. Die Verarmung der PIIGS-Staaten hängt vor allem mit dem ökonomischen Niedergang der Mittelschicht zusammen. Denn Beschäftigte in ungesicherten Arbeitsverhältnissen leisten auch einen deutlich geringeren Beitrag zu den Steuereinnahmen als ihre Eltern, die noch der Mittelschicht angehörten und eine sichere und gut bezahlte Arbeit hatten.
Hören wir einmal, was eine junge Frau uns zu sagen hat, die als Sekretärin arbeitet wie ihre Mutter. Ich bin diesen beiden Frauen im Zug begegnet: »Ich arbeite als Sekretärin, genau wie meine Mutter. Wie sie hatte ich nie große Ansprüche. Ich wollte eine sichere Arbeit mit geregelten Arbeitszeiten, um mein Büro Punkt 17.00 Uhr verlassen zu können. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich meine Arbeit 25 Jahre nach ihr aufgenommen habe. Statt eines regelmäßigen Gehalts, Urlaub und Mutterschutz habe ich einen befristeten Vertrag. Nachdem ich mein Diplom gemacht hatte, bekam ich in meinem ersten Job ganze 300 Euro im Monat. Da ich beim besten Unternehmen der Stadt arbeitete, akzeptierte ich die Bedingungen. Ich war überzeugt, diese Erfahrung sei wichtig für meinen Lebenslauf und ich würde danach bestimmt leicht eine andere Stelle finden. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, und ich habe dreimal den Arbeitsplatz gewechselt, aber trotzdem konnte ich den Computer nie pünktlich um 17.00 Uhr ausschalten. Wenn es gutgeht, wird es 18.00 Uhr, oft aber auch 19.00 Uhr. Jetzt erhalte ich 900 Euro brutto im Monat – außer im August und im Dezember. Für die Wochen, in denen die Firma Betriebsferien hat, bekomme ich kein Gehalt. Dasselbe gilt im Krankheitsfall. An eine Schwangerschaft brauche ich gar nicht erst zu denken – diesen Luxus würde mir niemand bezahlen.«
Was die junge Frau uns erzählt, zeigt, dass das soziale und politische System, dem sie angehört, gescheitert ist. Doch lässt es auch ahnen, wie die ökonomische Zeitbombe aussieht, die hier tickt. Denn die Steuerbeiträge der Tochter sind um vieles geringer als die ihrer Mutter.
Die Wirtschaft ist schuld
Kehren wir zurück in die arabischen Länder. Auch dort sind Jugendarbeitslosigkeit und ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse weit verbreitet. Es ist kein Zufall, dass die Revolution in Tunesien ihren Anfang nahm: Das Land war von der Wirtschaftskrise stark betroffen, weil es am besten in die neoliberale westliche Wirtschaft integriert ist. Es verfügt über die modernste Wirtschaftsstruktur und das höchste Bildungsniveau in der Region.
Schuldenkrise und Rezession führen dazu, dass die Wirtschaft in ganz Nordafrika und im Nahen Osten schrumpft. Zwischen 2007 und 2009 sinkt die Wachstumsrate Tunesiens von 6,4 Prozent auf 3,3 Prozent. In dieser Zeit werden auch weniger Arbeitsplätze geschaffen, statt 80.000 nur 57.000. Die Konsequenzen tragen vor allem die jungen Leute mit
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