Der fliegende Brasilianer - Roman
erklärt, aber das ist offensichtlich eine typisch weibliche Erwartung. Damals waren die Männer sehr vernünftig, ernst und von sich selbst überzeugt. In der Öffentlichkeit galten sehr strenge Anstandsregeln, und die Menschen benahmen sich, als wäre ihre Kleidung ein Eisengerüst. Und Alberto war genauso, ein Mann der Gesellschaft seiner Zeit, ein bisschen zerstreut, weil er immer an seine Erfindungen dachte, aber in seiner Herbheit keine Spur anders. Allerdings besaß er eine ganz besondere, typisch südländische Logik. Und wenn er wollte, wenn er seine Schüchternheit ablegte, war er ein geistreicher Mann.
Rotkäppchen Ein lauer Abend hat viele Fußgänger in die engen Gassen von Montmartre gelockt. In der fröhlichen Menge drängen sich Künstler, Zuhälter mit ihren Frauen, etliche unbegleitete Frauen, Studenten und Herren, gekleidet nach der »Petitsantôs«-Mode. Die Brasserien und Restaurants sind voll, Tische sind auf die schmalen Bürgersteige gestellt. Mitten zwischen diesen Menschen, die die seltene laue Sommerluft genießen, kommt Aída, ziemlich scheu, fast an die Häuserwände gedrückt, die Straße entlang und überhört die vielen Kommentare, die ihr auffälliger südländischer Typ hervorruft. Das junge Mädchen betritt schließlich ein kleines, dicht besetztes Restaurant und macht sofort Alberto ausfindig, der sich angeregt mit zwei Herren und einer Dame unterhält.
Aída geht auf den Tisch zu, ohne auf den Kellner zu achten, der sich um sie herum verbeugt.
Alberto, der sie noch nicht bemerkt hat, scheint etwas in der Atmosphäre zu spüren und wendet seinen Blick in ihre Richtung. Abrupt erhebt er sich, seine Freunde sehen leicht erschrocken auf.
Aída! Was ist passiert?
Ich war bei dir zu Hause, da hat man mir gesagt, dass du hierhergegangen seist.
Bist du allein?
Ja, Mama denkt, ich bin beim kubanischen Botschafter. Ich musste dich sprechen.
Ich weiß, ich dich auch.
Beide lächeln und tauschen Blicke stillen Einvernehmens.
Komm, setz dich …
Nein, ein andermal. Ich hätte dir Bescheid geben sollen. Ich will nicht stören …
Das sind brasilianische Freunde … komm, ich mache euch bekannt … sie werden dir gefallen …
Brasilianer?
Komm, nur ganz kurz. Nachher bringe ich dich nach Hause.
Er zieht das Mädchen am Arm zum Tisch, die Herren erheben sich.
Das ist Senhorita Aída D’Acosta … Antônio Prado, ein sehr guter Freund von mir, Mademoiselle Maria Cristina Penteado, eine liebe Freundin, und Dr. Manoel Bonfim, Schriftsteller …
Alle begrüßen sich.
Meine lieben Freunde, es tut mir leid, unser Abendessen abzubrechen, aber ich muss gehen …
Du verlässt uns?, fragt der Unternehmer bedauernd.
Ach, nun mach ihm keine Vorwürfe, bemerkt ironisch die junge Penteado.
Wenn der Grund das Fräulein D’Acosta ist, sei Ihnen verziehen, sagt der Schriftsteller.
Alberto antwortet nicht, beugt sich nur vor, um Cristina Penteado die Hand zu küssen, und klopft seinen Freunden überschwänglich zum Abschied auf den Rücken. Aída verbeugt sich schüchtern.
Das Zeitalter der Vernunft Sie haben das Restaurant verlassen und sind einen halben Häuserblock bergab zu dem Roadster gegangen, der auf der Place du Tertre steht. Beim Anblick des Autos wundert Aída sich.
Auto? Ich dachte, du würdest dich nicht mehr dazu herablassen, in diesem überholten Ding ohne Zukunft zu fahren.
Wie automatisch erwidert er besorgt: Du irrst dich, das Automobil wird bleiben, aber das ist jetzt unwichtig … Deine Mutter wird erfahren, dass du nicht beim kubanischen Botschafter warst.
Mach dir deshalb keine Sorgen, das ist mein Problem.
Lügst du häufiger?
Ich lerne es gerade. Und schuld daran bist du, Alberto.
Zum ersten Mal ist es mir ein Vergnügen, einen Menschen zu verderben.
Schließlich haben sie den Platz erreicht, wo das elektrische Auto geparkt ist. Alberto hält Aída die Tür auf.
Bist du schon einmal Auto gefahren?
Ja.
Wo? Hier in Paris?
Aída steigt an, und Alberto setzt sich ans Steuer.
In Newport, Rhode Island, da haben wir ein Haus.
Und da hast du ein Auto?
Nein, ich nicht. Aber mein Vater. Drei.
Dann fährst du also mit dem alten Herrn spazieren?
Manchmal … Im Allgemeinen fahre ich lieber mit einem Freund.
Das junge Mädchen beobachtet deutlich, wie Alberto reagiert. Er verzieht die Miene und setzt den kleinen Wagen brummend in Gang. Sie fahren die steile Straße zur Pigalle hinunter und wechseln kein Wort mehr. Endlich, als sie durch eine
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