Der Fliegende Holländer
half, in einem Pub in Covent Garden. ›Ein Gesicht vergesse ich nie‹, log ihm sein Gedächtnis selbstgefällig vor, aber Vanderdecker hörte gar nicht zu.
Das Mädchen starrte ihn an, und Vanderdecker blieb fast das Herz stehen – das war kein freundlicher Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde, dessen Dauer nur ein Wissenschaftler genau bestimmen könnte, herrschte absolute Stille. Dann begann das Mädchen sehr leise zu sprechen.
»Sie stehen auf meinem Fuß«, beschwerte es sich.
Vor vielen Jahren, als er noch eine Autorität gewesen war, mit der man im Jutegeschäft jederzeit hatte rechnen müssen, war Vanderdecker zum Tode verurteilt worden. An die Einzelheiten konnte er sich nicht mehr erinnern – es hatte irgend etwas mit Überschreiten des zulässigen Höchstpreises in einer Hansestadt zu tun gehabt, und das in einem Wahljahr –, aber er erinnerte sich noch an die unglaubliche Erleichterung, die er empfunden hatte, als an jenem Morgen, von dem er geglaubt hatte, es sei sein letzter auf dieser Welt, der Gefängniswärter seine Zelle betreten und ihm erzählt hatte, die Strafe sei in eine Geldbuße von siebzig Groschen umgewandelt worden. Wenn man bedenkt, daß Vanderdecker nur ein paar Jahre später mit Unsterblichkeit gesegnet werden sollte, war das wirklich eine Ironie des Schicksals gewesen, aber er hatte damals das Gefühl gehabt, als wäre er nach viel zu langer Zeit endlich wieder aus dem Wasser aufgetaucht. Dieselbe Empfindung überfiel Vanderdecker jetzt irgendwo in der Luftröhre, während sein Gehirn die Tatsache registrierte, daß das Mädchen ihn überraschenderweise nicht wiedererkannt hatte. Als seine Atmungsorgane die Tätigkeit wiederaufgenommen hatten, bat er um Verzeihung und hob den Fuß.
»Entschuldigung, wie ungeschickt von mir.«
»Das macht nichts«, erwiderte das Mädchen langsam. Sie musterte ihn erneut, und sobald sich ihre Augen begegneten, wurde Vanderdecker klar, zu welcher Reaktion er an jenem kalten Morgen in den siebziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts fähig gewesen wäre, wenn ihm der Gefängniswärter nach der Mitteilung zugezwinkert und gesagt hätte: »Entschuldigung, mein Sohn, ich hab nur Spaß gemacht.«
Der nächste logische Schritt wäre jetzt, schleunigst von hier zu verschwinden, sagte ein noch funktionierender Teil von Vanderdeckers Gehirn. Zwar nahm er diesen Rat zur Kenntnis, tat jedoch nichts, um ihn auszuführen, und blickte dem Mädchen statt dessen ins Gesicht. Ein hübsches Gesicht, wenn man es gern etwas rund mochte. Ein paar Wörter sprudelten ihm in den Mund wie Stickstoff in das Gehirn eines druckfallkranken Tauchers.
»Ist das hier Jeanes’ Bootswerft?« fragte er dümmlich.
»Das hoffe ich doch«, antwortete das Mädchen. »Ich suche nämlich schon den ganzen Morgen danach.«
Sie hatte das Wams bemerkt. Vielleicht denkt sie nur, wie idiotisch ich aussehe, vielleicht aber auch nicht, meldete sich bei Vanderdecker die Stimme des Optimismus zu Wort.
Wäre er in der Lage gewesen, Janes Gedanken zu lesen, hätte er eine kurze Wiederholung ihrer Kunstgeschichtsstunden aus der Abschlußklasse gesehen und die Worte gehört: ›Das Hemd hab ich irgendwo schon mal gesehen.‹ Jane wußte es zwar nicht, aber es war ihr einst auf einem Gemälde von Tiepolo begegnet. (Ein Tip für Leute, die mit dem Gedanken spielen, ewig zu leben: Lassen Sie nie ein Porträt von sich malen, selbst wenn es nur ein paar Soldini kostet, weil immer die Gefahr besteht, daß der verwahrlost aussehende Maler, der das Gemälde anfertigt, Jahrhunderte später als alter Meister gefeiert wird, mit dessen Werk man sich selbst auf Mittelschulen befaßt.)
Und was das Gesicht angeht, das hab ich auch schon mal gesehen, dachte Jane. Aber wo? Unterdessen setzten sich ihre Stimmbänder völlig reflexartig in Bewegung.
»Bei der Touristeninformation hat man mir eine Wegbeschreibung mitgegeben, aber die scheint nicht besonders genau sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß ich keinen Orientierungssinn habe.«
»So geht’s mir auch«, log Vanderdecker. »Lassen Sie mich mal sehen.«
Jane fischte den gefalteten ›Herrliches Dorset‹-Prospekt aus ihrer Tasche, und dann untersuchten beide mit übertriebenem Eifer Mrs. Price’ kartographische Skizze.
»Wenn das da drüben das Postamt ist …«, begann Jane; da fiel bei ihr plötzlich der Groschen, und zwar genau an der richtigen Stelle im Kopf. Die Kleider, die er anhat, dachte sie, stammen aus verschiedenen Epochen.
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