Der Fliegende Holländer
Er sieht wie ein Landstreicher aus, der einen Kostümverleih ausgeraubt hat. Jeanes’ Bootswerft. Verschiedene Epochen der Geschichte. Das konnte doch nicht wahr sein …
»Also«, sagte der Mann gerade, »wenn das da der Red Lion sein soll, dann muß hier Norden sein. Stellen Sie die Skizze mal auf den Kopf, dann sehen wir weiter.«
Jane dachte einen Augenblick lang nach. Es war einen Versuch wert. »Also das da ist der Red Lion, richtig? Ich frage mich, was das früher mal gewesen sein mag.«
»Eine Fleischerei«, antwortete Vanderdecker wahrheitsgetreu. Er blickte von der Skizze auf und starrte Jane an.
»Und wann soll das gewesen sein?« fragte sie. Ihre Stimme klang ruhig, leicht triumphierend und mehr als nur ein wenig ängstlich. Dem etwas großspurig formulierten Schild über dem Eingang zufolge war der Red Lion 1778 erbaut worden.
»Vor Ihrer Zeit«, erwiderte Vanderdecker.
»Aber nicht vor Ihrer, nicht wahr?«
»Da haben Sie allerdings recht«, entgegnete der Fliegende Holländer. »Sogar nach meiner Zeit, wenn man so will. Haben Sie mich gesucht?«
»Ja«, bestätigte Jane verlegen.
Vanderdecker lächelte matt. »Dann haben Sie sich aber ganz schön dämlich angestellt, denn das ist bereits das dritte Mal, daß wir uns begegnen. Die Welt ist klein, finden Sie nicht?«
Diese nur unterschwellig aggressive Äußerung schien Jane bereits leicht in Panik zu versetzen, während Vanderdecker spürte, wie ihm plötzlich ein riesiger Felsbrocken vom Herz fiel. Es war wie nach einer Ohrspülung; man nimmt plötzlich viel mehr wahr.
Jane schwieg eine Weile, dann blickte sie ihn an und sagte vorsichtig: »Daß jemand in Ihrer Lage so denkt, kann ich mir gut vorstellen.« Sie hatte das Gefühl, sie sollte am Ende des Satzes eigentlich noch ›Mister Vanderdecker‹ hinzufügen, aber das hätte zu sehr an einen Krimi erinnert. Also wartete sie auf eine Antwort.
»Das können Sie laut sagen«, erwiderte Vanderdecker, während sein Lächeln so langsam erstarrte wie Kerzenwachs, das auf eine Tischplatte getropft ist. »Klein und stinklangweilig.« Er machte eine Pause und atmete tief ein. »Nur um auch sicherzugehen, daß wir nicht aneinander vorbeireden – Sie wissen also, wer ich bin, ja?«
»Ich denke, ja«, antwortete Jane. »Ich glaube, Sie sind Julius Vanderdecker.«
Aus irgendeinem Grund hatte er erwartet, daß sie ›der Fliegende Holländer‹ gesagt hätte. Das war ein Spitzname, den er schon immer gehaßt hatte. Holländer? Ja, vollkommen richtig, aber warum, zum Henker, ›der Fliegende‹? Daß sie seinen richtigen Namen genannt hatte, empfand er irgendwie als rührend.
»Und Sie haben mich also gesucht, ja?«
»Richtig.«
»Aha.« Sein Gesicht schien sich zu entspannen, als er fragte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier kurz zu warten, während ich nach meinem Schiff sehe? Danach können wir ja gemeinsam etwas trinken gehen und uns über die Sache unterhalten.«
»In Ordnung«, erwiderte Jane. Ganz sachlich. Ganz zivilisiert. Noël Coward würde sagen: Jetzt hat’s mich zwar erwischt, aber gehen wir doch wie Erwachsene damit um. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mitkomme?«
»Nur zu«, willigte Vanderdecker ein. »Sie können einem Meister der Lüge bei der Arbeit zusehen, wenn es Sie nicht stört, zur heimlichen Komplizin zu werden.«
»Das macht mir überhaupt nichts«, hielt Jane entgegen. »Schließlich bin ich Buchhalterin.«
Ganz langsam und vorsichtig zog sich Danny Bennett die Decke vom Kopf und sah sich um. Er gehörte nicht zu diesen oberflächlichen Menschen, die nach dem ersten Eindruck urteilen. Er benötigte noch mehr Informationen, bevor er in verantwortungsbewußter Weise losschreien konnte.
Ein Mann mit einem abgetragenen Wams aus Wolle, geflickter Hose und einer Baseballmütze kam vorbei und lächelte ihn freundlich an, und Danny gab sein Bestes, das Lächeln zu erwidern. Dann kletterte der eigenartig gekleidete Mann die Schiffstakelage hoch. Nach einem langen Aufstieg erreichte er schließlich eine Art Holzplattform mit einem sehr niedrigen Geländer (war das Ding da oben jetzt der Ausguck oder ein abgesägtes Bierfaß? Einen Moment lang bereute es Danny, nicht Moby Dick gelesen zu haben, obwohl ihm das Buch von seiner Großmutter zum zwölften Geburtstag geschenkt worden war). Jetzt winkte der Mann, atmete einmal tief ein und sprang.
Unwillkürlich schloß Danny die Augen; die kleinen Muskeln in den Augenlidern waren sehr gut in der Lage, solch eine
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