Der Fliegenfaenger
entsetzlichen Mann zu heiraten. Ich wusste , dass es überhaupt nichts ändern würde, wenn ich dorthin zurückging. Ich ging einfach nur hin! Das ist alles. Ich ging einfach nur hin! Weil ich sonst nirgends hinkonnte! Deshalb! Dehalb bin ich dorthin gegangen. Und das Einzige, was ich dort unten tat, war, dass ich nachdachte. Ich stand am Kanalufer und dachte nach. Ich dachte über alles nach, was mir zugestoßen war. Mir. Und dem kleinen Mädchen. Ich dachte über die Kleine nach. Und ich überlegte, was wohl aus ihr geworden war. Ihr hatte ich nie einen Vorwurf gemacht, Morrissey. Der Kleinen hatte ich nie einen Vorwurf gemacht. Denn was sie erlebt hatte, war viel schrecklicher als alles, was mir zugestoßen war. Aber wenn sie nicht behauptet hätte, ich sei es gewesen, dann hätte ich jetzt bestimmt nicht dort gestanden, am Kanal. Mir klapperten die Zähne, der Wind wehte schneidend durch mein T-Shirt, und ich überlegte, dachte nach und betrachtete das Abbild des Mondes auf der spiegelglatten Oberfläche des zugefrorenen Kanals.
Und irgendwann wär ich dann eben doch heimgegangen, Morrissey. Ich hätte mich umgedreht und wär einfach heimgegangen. Denn ich wusste ja, dass es keine Antworten für mich gab, jedenfalls nicht hier unten am Kanal. Ich glaube, ich wusste schon damals, dass es eigentlich überhaupt keine Antworten gibt. Wie hat meine Oma immer gesagt: »Es sind die Fragen, mein Junge, auf die es ankommt; die Fragen; mit den Antworten braucht man sich gar nicht erst abzugeben.«
Irgendwann hätte es mir dann gereicht, in Failsworth herumzuirren und halb erfroren am Kanal zu stehen. Und ich hätte mich noch an etwas anderes erinnert, was meine Oma immer gesagt hat, nämlich, dass man mit Selbstmitleid noch keine einzige Kartoffel geschält gekriegt hat.
Und deshalb hätte ich es nie getan, Morrissey, nicht das, was die alle behauptet haben. Ich wollte mich sogar gerade umdrehen, vom Wasser abwenden. Und es war der Schock, der plötzliche Schock; dieser laute Schrei, der plötzlich durch die ruhige Luft drang! Ich erschrak einfach, als plötzlich diese riesige Gestalt auf mich zugestürzt kam und der Schrei in der stillen, kalten Nachtluft explodierte: »RAYMOND!!!«
Ich spürte, wie ich das Gleichgewicht verlor, wie ich ausrutschte und mein Fuß keinen Halt mehr fand; das Eis auf der Abdeckplatte zog mir die Füße weg und ich kippte nach hinten. Ich war schon ins Wanken geraten, ich ruderte schon mit den Armen, suchte verzweifelt nach Halt, griff aber nur in die dünne Luft, als ich sah, wer mich mit seinem Schrei so erschreckt hatte: er, der Mutant, der jetzt von der Brücke auf den Treidelpfad zugerannt kam und schrie: »Nein, Raymond, nein!! TU’S NICHT!!!«
Ich tat’s ja auch gar nicht, Morrissey; ich tat überhaupt nichts. Es passierte einfach. Und ich konnte es nicht verhindern. Denn ich stürzte bereits und schug mit dem Kopf gegen die steinerne Uferbefestigung, bevor ich aufs Eis krachte. Da lag ich und spürte, wie das warme Blut über mein kaltes Gesicht rann. Und eine winzige Sekunde lang dachte ich, alles sei in Ordnung und ich könnte gleich wieder aufstehen und das Ufer hinaufklettern. Ich streckte schon den Arm aus, um mich aufzustützen. Aber da hörte ich es, das Kreischen des Eises; ein schriller, qualvoller Schrei, als es langsam unter mir brach; dann sprang es pötzlich klaffend auf, während die eisigen Finger des Wassers nach mir griffen, und ich erstarrte, als sie mich hinabzogen, unters Eis, in den Kanal. Ich versuchte wieder hochzukommen, Morrissey. Trotz des Schmerzes in meinem Kopf, trotz der lähmenden Kälte des Wassers versuchte ich hochzukommen. Aber da war das Eis, Morrissey, verstehst du, das Eis; es hatte sich wieder über mir geschlossen und öffnete sich nicht mehr, jedenfalls nicht von unten. Ich drückte immer wieder dagegen und versuchte die Stelle zu finden, an der ich eingebrochen war. Aber der Schmerz in meinem Kopf, Morrissey. Und die Starre, Morrissey; von unten gegen das Eis zu drücken war ein Gefühl, als müsste ich die ganze Welt hochstemmen; es bewegte sich nichts. Und je mehr ich drückte, desto schwächer wurden meine Arme. Bis es mir irgendwann sinnlos vorkam weiterzudrücken. Irgendwie war es sogar ein schönes Gefühl, aufzugeben, nachzugeben. Selbst der Schmerz in meinem Kopf ließ nach. Und die lähmende Kälte des Wassers kam mir gar nicht mehr kalt vor; eher wie eine Decke, die mich warm einhüllte.
Und da sah ich ihn, den Netten Jungen.
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