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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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hätte wirklich meine Medikamente einnehmen sollen. Aber jetzt war es zu spät. Also versuchte ich es so. Ich versuchte mich zu konzentrieren, gegen die Gefühle anzukämpfen und meine Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen. Ich betrachtete das große farbige Glasfenster und versuchte mich auf das Bild zu konzentrieren.
    Aber plötzlich bildete ich mir wieder Dinge ein!
    Zuerst sah es wie ein ganz normales farbiges Glasfenster aus. Die Sonne schien rein und man sah in der Luft die funkelnden Stäubchen tanzen. Das Bild stellte Jesus von Nazareth als Jungen dar, und er war vermisst worden, seine Mam und sein Dad waren vor Sorge ganz außer sich gewesen. Aber jetzt hatten sie ihn wieder gefunden, er hatte sich die ganze Zeit im Tempel aufgehalten. Man sah Maria und Josef ihre große Freude und Erleichterung an, weil sie ihren Sohn wiederhatten und alles in Ordnung war.
    Also starrrte ich weiter das Glasfenster an und versuchte alles andere zu vergessen, während mein diebischer Onkel Jason und die anderen Sargträger mit dem Sarg an mir vorbeischritten. Ich schaute gar nicht hin. Ich wollte meinen Drecksonkel Jason gar nicht sehen. Und den Sarg auch nicht, weil er nicht aus biologisch abbaubarem Karton war, wie meine Oma es sich immer gewünscht hatte, um möglichst bald eins mit den Würmern zu werden.
    Ich starrte einfach weiter auf das Glasfensterbild von Jesus und seinen Eltern.
    Und da geschah es!
    Plötzlich waren es nicht mehr die Gesichter von Jesus, Maria und Josef; nein, jetzt blickte Normans Gesicht auf mich herab, aus Josefs Kopf; und das Gesicht der Jungfrau war zu Twinkys Gesicht geworden; Twinkys Gesicht mit dem schönen strahlenden Lächeln, das er mir manchmal geschenkt hatte. Und aus dem Gesicht des jungen Jesus sah mich der Nette Junge an; der Nette Junge, der ich mal gewesen war.
    Erst machte es mir Angst, diese drei Gesichter zu sehen. Aber andererseits war es auch schön, sie dort oben wieder vereint zu sehen – das Trio aus Failsworth.
    Ich wusste, es waren die chemischen Stoffe in meinem Hirn, die mich ausrasten ließen, weil sie ihre Medikamente nicht kriegten. Ich zwinkerte, ich zwinkerte ganz stark, während alle andern zu singen begannen, Mr. Wilson neben mir besonders laut. Aber die Gesichter des Trios aus Failsworth starrten immer noch auf mich runter. Deshalb schloss ich einfach die Augen. Und ich hielt sie fest geschlossen, bis das Lied zu Ende war. Und als ich sie wieder aufmachte, schaute ich nicht mehr zu dem farbigen Glasfenster rauf. Ich sah auf den Pfarrer und hörte ihn sagen, obwohl er nicht das Vergnügen gehabt habe, meine Oma persönlich kennen zu lernen, sei es ihm in den letzten Tagen doch gelungen, sich ein Bild von ihr zu machen, ein sehr lebhaftes Bild, das sich aus den Erinnerungen jener Menschen zusammensetze, die sie gekannt und geliebt hätten; und damit meine er insbesondere die tapferen Pflegerinnen in Stalybridge, die keine Zeit und Mühe gescheut hätten, meiner Oma am Ende ihres Lebens noch ein paar wirklich reiche, glückliche Monate auf Erden zu bereiten.
    »Und als ich … den Erinnerungen jener Pflegerinnen lauschte«, sagte der Pfarrer, »und ihre … Geschichten … und … Eindrücke hörte, da … hatte ich das Gefühl … durch … ihre … gemeinsamen … Erinnerungen … einen Blick auf die … wirkliche … Vera Bradwell … zu erhaschen.«
    Jetzt lächelte der Pfarrer.
    »Oder wie … ihre lieben Freunde in Stalybridge … sie zärtlich nannten … Vera … Madeira .«
    Er gluckste. Und dann hörte ich Wilson neben mir ebenfalls glucksen. Ich wollte sofort meine Tabletten! Ich wollte ganz weit weg sein!
    »In Erinnerung an Vera Bradwell«, fuhr der Pfarrer fort, »wollen wir versuchen … in unseren Herzen das wunderbare Bild dieser sorglosen, unbekümmerten … Frau, Vera … Madeira zu bewahren.«
    Ich hielt es nicht mehr aus! Ich hielt es nicht mehr aus! Er war ein Mutant! Der Pfarrer war ein Mutant! Ich begann in meinem Kopf drin zu reden, damit ich das nicht mehr mit anhören musste, ich redete redete redete mit mir selbst, sagte nichts, sagte etwas, sagte nichts, redete, hörte nicht zu, hörte nicht zu, hörte nicht zu. Ich war dumm, ich war dumm, hatte meine Pillen nicht genommen, hatte sie runtergespült, hätte ich nicht tun sollen, hätte sie einnehmen sollen, meine Medikamente Medik…amen…te… Medikamente. Ich versuchte mich zu konzentrieren, zu konzentrieren, ruhig, ruhig zu bleiben, ruhig zu bleiben. Dann sah ich ihn, den Sarg,

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