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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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so real, wie sie da mit federnden Schritten über den Sand der Morgensonne entgegenlief, die Schuhe in der Hand.
    Doch im Grunde weiß ich, dass es nur eine Phantasie war. Denn was wollte sie an einem Ort wie Cleethorpes – das Mädchen mit den Kastanienaugen?
    Ich redete mir ein, dass es wohl vom Schlafmangel kam, Morrissey. Deshalb phantasierte ich mir jetzt alle möglichen Dinge zusammen. Aber ein wenig besorgt war ich doch, Morrissey. Denn seit man mich aus Swintonfield entlassen hatte, war das nie mehr passiert. Es war nicht mehr vorgekommen, dass ich irgendwas sah, was nicht existierte, Morrissey, wie die Mutanten, das Rübenkraut oder den Mann hinterm Vorhang, den Mann mit dem verkehrt rum sitzenden Kopf.
    Und außerdem war es jetzt anders, denn diesmal sah ich ja etwas Schönes: das Mädchen mit den Kastanienaugen.
    Aber trotzdem sah ich eine Person, die nicht existierte, trotzdem sah ich etwas, das nicht real war!
    Es konnte auch niemand anders sein, irgendein anderes Mädchen am Strand, das zufällig genauso aussah wie sie. Das weiß ich deshalb, weil ich zum Pier hinüberging, wo die Fernrohre stehen, und ein Fünfzigpencestück einwarf. Da war sie! Ganz nah, dicht vor mir, und ihre Augen glänzten genauso dunkel, wie ich sie immer in Erinnerung gehabt hatte. Sie drehte sich wirbelnd im Kreis, mit ausgestreckten Armen. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, brauchte ich bloß auf ihr T-Shirt zu schauen; es war das sehr, sehr seltene T-Shirt mit dem Bild der australischen Version des Viva Hate -Albums und dem falschen Titel Education In Reverse !
    Deshalb wusste ich, Morrissey, dass es niemand anders sein konnte als sie.
    Aber dann waren die fünfzig Pence aufgebraucht.
    Und als ich wieder zum Strand hinüberschaute, war er leer.
    Deshalb machte ich mir Sorgen. Ich wollte nicht wieder irgendwelche Dinge sehen, die gar nicht da waren, nicht einmal so schöne Dinge wie das Mädchen mit den Kastanienaugen. Und den Mann!
    Den Amerikaner mit dem silberfarbenen Wagen und den Smiths-Kassetten. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Zusammenphantasiert?
    Ich bin müde, Morrissey; müde und erschöpft. Vielleicht hab ich sie gesehen, weil ich sie sehen wollte .
    Denn was ich auf keinen Fall will, ist das, was ich jetzt tun muss: die Straße zurücklaufen, Richtung Fisch Dock Nr. 9; zu der Baustelle gehen, auf der man mich erwartet, auf der ich ab heute arbeiten und ein ganz normaler Mensch sein werde, jemand, der dazugehört. Deshalb muss ich jetzt schnell den blöden Pullunder, die stonewashed Jeans und die Arbeitsstiefel anziehen. Und das Schlimmste von allem, Morrissey: Ich muss meine Stirnlocke auskämmen.
    Unten an der Promenande befindet sich eine öffentliche Toilette. Dort kann ich mich umziehen.
    Hoffentlich kannst du verstehen, Morrissey, dass ich keine andere Wahl hab. Ich muss es tun. Ich tue es nicht, weil ich mich schäme oder weil ich die Vergangenheit auslöschen will.
    Ab jetzt wird eben alles ganz anders. Vielleicht find ich unter den Leuten, die hier arbeiten, ja wirklich ein paar Freunde. Und dann muss ich vermutlich alle möglichen langweiligen und peinlichen Dinge tun, von denen du sicher gar nichts hören möchtest; zum Beispiel in Bars gehen oder nach der Arbeit mal ein Bier trinken; und manchmal wahrscheinlich sogar Fußball schauen. Ich weiß, davon willst du bestimmt nichts hören, Morrissey. Deshalb werd ich dich später auch nicht damit behelligen. Von jetzt an, Morrissey, werd ich wahrscheinlich sowieso nicht mehr viel in mein Songbook schreiben.
    Vermutlich gibt es Tausende von Leuten wie mich, Morrissey, die so von dir und deinen Songtexten verzaubert waren, dass sie glaubten, sie könnten ebenfalls schreiben; aber eines haben wir alle vergessen, Morrissey: dass du ein Genie bist und wir andern alle ziemlich durchschnittlich sind. Nicht sehr bemerkenswert. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich die Gitarre zurückgelassen hab, Morrissey. Das war keine Absicht. Ich hab sie einfach vergessen. Er hatte sie in den Kofferraum gelegt. Und sie fiel mir erst wieder ein, als er weg war. Aber das macht nichts. Ich brauch ja keine Gitarre mehr!
    Es ist nämlich so … ich hab dich angelogen, Morrissey, ich bin nicht nur nach Grimsby gekommen, weil mich mein Onkel dazu gezwungen hat. Ich hätte mich ja weigern können. Ich hätte meine Mam bitten können, mir das zu ersparen, oder ich hätte so tun können, als ginge es mir wieder schlechter. Aber ich hab es nicht getan,

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