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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Lehrer?
    Kratinos:
Mein Denken ist langsam. Wie das Meer reinigt es erst jedes Ding von seinen Selbstverwesungen. Ich glaube, die Macht des Demos ist ein Schein. Sie ist eine von den Verkleidungen des Nichts; wie die Zukunft, der Fortschritt, und das Ich
.
    Agathon:
Der Demos trägt den Tyrannen in sich; man muß ihm nur Zeit lassen, ihn zu gebären
.

» WOLLEN SIE an meinen Tisch kommen, Herr Krakauer? Heute wird nichts aus dem Frühstück auf der Veranda … Zuerst einmal muß ich mich nachträglich entschuldigen für neulich. Seither habe ich Sie und die beiden Damen gar nicht mehr gesehen … Wissen Sie, meine Menschenscheu ist mir manchmal selbst unheimlich, aber was soll ich machen? Meine Frau schimpft deswegen oft mit mir. – Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, nein, zwei Briefe – aber einen bloß in Gedanken, während ich zur Fürstenquelle spaziert bin. Daß ich die Baronin Trattnig verletzt habe, tut mir besonders leid, ich weiß gar nicht, was geschehen ist. Sie hat mich ja bloß gefragt, weshalb in diesem Jahr keine Festspiele stattfinden. Was hätte ich mir vergeben, wenn ich ihr erklärt hätte, die in den Zeitungen kolportierten Begründungen – eine Hauptdarstellerin habe abgesagt, Geldmangel – träfen nicht zu.«
    Krakauer massierte mit beiden Händen sein Gesicht und seine Augen, als wolle er sich von etwas befreien.
    »Die Hauptursache«, fuhr H. fort, »war vielmehr die katastrophale Lage im ganzen Land. Geldentwertung, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit machen den Einheimischen schwer zu schaffen, und sie können in solchen Zeiten wenig Verständnis auf bringen für Festspiele. Eine gewisse reaktionäre Presse mit dem vielsagenden Namen
Der eiserne Besen
hetzt immer wieder gegen Max Reinhardt. Man hätte jedenfalls befürchten müssen, daß die aus ganz Europa und sogar aus Übersee angereisten, festlich gekleideten Besucher vor dem Festspielhaus von Einheimischen angepöbelt worden wären. Es täte mir sehr leid, wenn Sie und die Frau Baronin unwissend wegen einer Festspiel-Aufführung in die Stadt gereist wären. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mich selbstverständlich bei der Baronin in aller Form entschuldigen. Vielleicht ergibt sich noch heute im Laufe des Tages die Gelegenheit …«
    »Nein, nein«, sagte Krakauer, »sie hätte Sie auch nicht so überfallen dürfen auf der Treppe. So ist sie halt. Andererseits kann sie selber ganz schön … unleidlich sein. Es geht ihr nicht gut. Körperlich kräftig wie ein Pferd, aber psychisch äußerst labil. Nun, der Kurarzt hat ihr heilsame Bäder verschrieben und ausgedehnte Wanderungen. Ich selbst kann wenig beitragen. Meine Gesellschaft scheint ihr aber wichtig zu sein. Ich würde Sie gerne einmal mit Elisabeth, ihrer Nichte, bekannt machen, die ich Ihnen gegenüber schon erwähnt habe, wenn ich mich richtig erinnere. Sie ist als Sängerin noch nicht sehr bekannt. Die Frau Baronin ist ihr seit Jahren so etwas wie eine zweite Mutter, wenn sie sie manchmal auch sehr rüde behandelt, wie ich es schon erlebt habe. Elisabeth hatte das Angebot, an die Budapester Oper engagiert zu werden, doch die Baronin erregte sich, als sie davon erfuhr, fürchterlich – das war, bevor ich mich den beiden anschloß … Ich bin sozusagen ihr privater Arzt. Nun, sie kann es sich leisten … Ich lese viel, die Frau Baronin übrigens auch. Sie liebt Rilke, den
Serafico
, wie ihn die Fürstin Thurn und Taxis nennt. Elisabeth allerdings ist zum Gehen nicht zu bewegen, dabei wäre es auch für sie sehr wichtig. Es fehlt ihr halt an passendem Schuhwerk und an warmen Sachen. Aus Salzburg sind wir beinahe
geflohen
– auf einmal wollte die Baronin die Stadt verlassen. Und so werden wir heute oder morgen noch einmal nach Zell am See fahren, um Elisabeth auszustatten.
    In der halbleeren
Post
hat sie in ihrem Zimmer Tonleitern üben können. Aber der Baronin konnte man dort nichts recht machen, sogar das Tafelgeschirr und die Servietten fand sie scheußlich. Jetzt, im ziemlich besetzten
Grandhotel
, ist das Singen nicht mehr möglich … Anfang Oktober wird Elisabeth in Bad Ischl als Gräfin Mariza auftreten, die Proben beginnen in fünf Wochen. Ohnehin hält es die Baronin nirgends lange aus, ich habe es Ihnen schon angedeutet. Der gestrige Schlechtwettereinbruch hat uns mit dem Gehen allerdings wieder zurückgeworfen. Der Kurarzt Doktor Schieferer hat mir gesagt, die Sterblichkeitsrate hier in dieser Gegend sei eine der niedrigsten in der gesamten Monarchie.

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