Der Fliegenpalast
Gewesen. Vor allem soll ja die Ruhe hier, die reine, kühle Luft, und dazu die intensive Sonneneinstrahlung sehr günstig auf die Psyche wirken. Wir haben uns bereits wieder eine Wanderung ausgesucht: zum Hirzbachfall. Dort in der Nähe soll früher nach Gold gegraben worden sein … Auf meiner Karte ist der Ort allerdings nicht verzeichnet.«
H. erwiderte, er habe, da er ja ursprünglich nicht die Absicht hatte, in die Fusch zu gehen, seinen alten Reiseführer für Bad Fusch und Umgebung nicht dabei. Aber der Hotelportier werde sicherlich helfen. Er selbst könne sich nicht erinnern, je bei einem Hirzbachfall gewesen zu sein, hingegen mehrmals beim Kesselbachfall. Sehr zu empfehlen sei die Tour auf die Weixelbachhöhe, die er seinerzeit jedes Jahr unternommen habe. Wandere man von dort noch weiter, so werde der Blick frei ins Seidlwinkltal. Bis Rauris allerdings sei er nie gekommen, das hätte eine Übernachtung erfordert.
Eigentlich, sagte Krakauer und blickte dabei auf seine Uhr, sollte er eine Kanne Tee besorgen für die Baronin, die ihr Zimmer nicht verlassen wolle. Er selber werde dann später … Allein lassen dürfe man die Baronin derzeit nicht.
»Sie sehen blaß aus, Herr von Hofmannsthal. Ich würde gerne Ihren Blutdruck messen. Wenn ich Sie später auf mein Zimmer bemühen dürfte?«
In der Früh, erwiderte er, fühle er sich meistens erschöpfter als am Abend, wenn er sich schlafen lege. Erst nach dem Kaffeetrinken erwache er zum Leben.
»Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, daß mir der Tee hier nicht mehr schmeckt. Ich bin halt verwöhnt von der Schweiz …«
»Die Schweiz war auch nicht so dumm, einen Krieg anzufangen«, sagte Krakauer.
H. spürte eine Unlust in sich aufsteigen. Dabei hatte der Herr Doktor zweifellos recht. Und seit er die Memoiren des Conrad von Hötzendorf gelesen hatte, deren erste Bände kürzlich erschienen waren, und jene eines französischen Diplomaten, hatte er mit Grausen begriffen, daß die ganze Schuld am Kriegsausbruch bei den Österreichern und Deutschen lag, alles grauenhafte Dummheit, Größenwahn, Ignoranz angesichts der politischen Situation … Ein paar Leute in Wien und in Berlin hatten den Tod vieler Millionen Menschen verschuldet.
»Sie haben völlig recht. Es ist, als wollte das Ungeheure irgendwie zum Ausbruch kommen, gleichgültig wie … Jahre vorher schon habe ich gefühlt, etwas sehr Schlimmes werde kommen, unabwendbar … Die südlichen Slawen innerhalb der Monarchie, nicht nur die Serben, auch die Kroaten … Aufruhr, standrechtliche Erschießungen … die Böhmen mit gefletschten Zähnen lauernd, Galizien unterwandert von russischen Agitatoren, Italien ebenso gern Feind wie Bundesgenosse, Rußland dürstend danach einzugreifen … Und im Inneren der Monarchie eine Art von Panik … Jeder hätte es fühlen müssen, daß wir dunklen Zeiten entgegengehen. Ich dachte dabei vor allem an meine Kinder … Entschuldigen Sie, lassen Sie sich nicht aufhalten. Richten Sie bitte der Frau Baronin Trattnig mein Bedauern für meine furchtbare Gedankenlosigkeit aus, es sind meine Nerven …
Wissen Sie, es ist bei mir wie ein neurotischer Zwang, daß ich die Menschen hier meide; jedes neue Gesicht erschreckt mich … Überhaupt halte ich viele Gesichter nicht mehr aus. Es ist eine völlig andere Gesellschaft als vor dem Krieg … Die Auswirkungen werden uns noch lange beschäftigen. Ein guter Freund der Familie, Sebastian Isepp – ja, Sebastian, wie Sie –, ein sehr guter Maler, er hat mehrere Isonzo-Schlachten miterleben müssen, ist zweimal verschüttet worden. Er überlebte, hat jedoch angesichts dessen, was er in dieser schrecklichen Zeit mitgemacht hat, aufgehört zu malen. Seit dem Kriegsende widmet er sich nur noch der Restaurierung von Kunstwerken … Auf irgendeine Weise bin auch ich verschüttet worden, in den letzten Kriegsjahren. Innerlich … sind Dinge in mir verschüttet, und ich finde keinen Zugang mehr …«
»Ich bin sehr begierig, eine Aufführung des
Schwierigen
zu sehen … Ich weiß gar nicht, haben Sie auch früher schon Komödien geschrieben?«
»Nach einem unglücklichen Krieg«, erwiderte er, »hat Novalis irgendwo gesagt, müsse man Lustspiele schreiben … Nein, warten Sie, er hat gesagt, die Darstellung von vergangenen Ereignissen sei ein Trauerspiel und alle Darstellung des Künftigen ein Lustspiel … Nein, man müßte es nachlesen. Ich habe meine Novalis-Ausgabe nicht dabei. Nun, ich weiß ja nicht, ob es je
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