Der Fliegenpalast
achtzehnten Jahrhunderts, was für ein Lebensfeld für ein Wiener Bürgersöhnchen.
Romana, die ihm offenbar von himmlischen Mächten Zugesprochene. Der Titel eines Tizian-Bildes kam ihm in den Sinn:
Die himmlische und die irdische Liebe
. Romana und die Venezianerin. Der Malteser, der selbst ihm, dem Autor, ein Rätsel war … Die Freunde, denen er die ausgearbeiteten Seiten vorgelesen hatte, waren hingerissen gewesen, hatten auf Fertigstellung gedrängt … Immer wenn er sich – wie zuletzt vor ein paar Jahren in Altaussee – dem Manuskript zugewendet hatte, erschlug ihn das umfangreiche Konvolut von Notizen und Varianten, von Exzerpten, Literaturhinweisen; diese Notizen erzeugten ja unentwegt weitere Notizen, der Papierhaufen erschien ihm immer mehr als ein endloses Gebirge, wie das Höllengebirge oder das Tote Gebirge bei Aussee, das er seit seiner Jugend hatte besteigen wollen, jedoch nie bestiegen hatte. Als er in den neunziger Jahren in Aussee jenes fünfzehnjährige Mädchen während einer abendlichen Prozession gesehen hatte, war dies für ihn ein so unvergeßlicher Eindruck, daß er, als er in Südtirol, auf Schloß Eppan, mit dem Roman begann, dem Kärntner Bauernmädchen den Namen Romana gab. Damals, auf Schloß Eppan, hatte er auch
Die Briefe des Zurückgekehrten
begonnen, fiel ihm ein. Er fragte sich, ob seine Eltern ihn mit neunzehn Jahren allein nach Venedig hätten reisen und einige Monate dort verbringen lassen? Das Venedig Ende des neunzehnten Jahrhunderts war allerdings nicht mehr das Venedig um siebzehnhundertachtzig, aber wohl immer noch abenteuerlich, farbenprächtig, gefährlich genug für einen unerfahrenen jungen Mann.
Immerhin, dachte er, hatten die Eltern nichts dagegen gehabt, als er von der Fusch aus allein mit dem Fahrrad – manche Strecken allerdings mit dem Zug – von Salzburg nach Südtirol und von dort über Verona nach Varese gereist war; wenn auch die Mama ihm hinterher gestanden hatte, daß ihre Nerven in diesen Wochen aufs äußerste angespannt gewesen waren.
In Lenzerheide hatte er während einer Wanderung dem Carl wieder einmal vom
Andreas
-Roman erzählt und ihm versprochen, ihn das bisher Ausgeführte lesen zu lassen (oder es ihm vorzulesen), wenn sie sich im Spätherbst in Aussee treffen würden. Möglicherweise hatte Carl eine Idee, wie man die Geschichte weiterführen und vollenden könnte. Wieder fiel ihm der Balzacsche Maler Frenhofer ein, der sein Werk so oft übermalt, bis sogar seine Freunde auf der Leinwand nichts mehr erkennen; dies verursachte ihm jedes Mal ein flaues Gefühl in der Magengegend.
War es Brecht gewesen, der ihn hingewiesen hatte auf Tiecks Romanfragment
Franz Sternbalds Wanderungen
, darauf, wie Tieck in seinen späten Jahren immer wieder zu Freunden davon gesprochen haben soll, den Roman vollenden zu wollen, was jedoch nicht geschah.
Warum verbiß er sich so in das
Timon
-Stück? Weil er nicht ein weiteres Theaterstück unabgeschlossen in den Kasten zu den anderen Fragmenten legen wollte? Carl gegenüber hatte er bekannt – er erinnerte sich genau, wo sie gestanden waren: vor dem gewaltigen Himmelbett im Palazzo Salis von Soglio –, daß er sich als einen in seiner zweiten Lebenshälfte Gescheiterten empfinde. »Bitte, belassen wir das jetzt!« hatte er gerufen, als Carl anfing zu protestieren, und hatte gedacht: Du hast ja keine Ahnung, wie es wirklich in mir aussieht.
Er hatte Carl über Robert Walser ausfragen wollen, aber er merkte, daß dies im Moment etwas Unbetretbares war. In seinem Zimmer im
Parkhotel
hatte er sich erinnert, daß sie sich in Berlin einmal begegnet waren. Walser war ihm vorgekommen wie der Sohn eines Großbauern, den man für eine Hochzeit in einen dunklen Anzug gesteckt hatte.
NACH EINEM anstrengenden, ihn geistig jedoch erfrischenden langen Spaziergang auf dem Höhenweg Richtung Weixelbachhöhe betrat er ungeduldig sein Zimmer, stellte den Stock in die Ecke neben der Tür, legte den Hut aufs ungemachte Bett, setzte sich gleich an den Tisch, um einiges zu notieren. Er wußte es eh schon lange: Wenn er kein Notitzbüchl mitnahm, fielen ihm Sachen ein; hatte er es eingesteckt, blieben die Blätter oft unbeschrieben. Freilich, die Idee, im zweiten Bild die Hetäre Bacchis auftreten zu lassen und in einen Dialog mit dem Timon zu verwickeln, hatte er schon vor Tagen gehabt. Aber jetzt hatte er auf einmal das Gefühl, er sei in der Lage, den Dialog niederzuschreiben, mindestens zu skizzieren, ohne vorher
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