Der Flirt
kitschig, Stoff für christliche Pralinenschachtel-Sentimentalität.
Doch Rose konnte den Blick nicht davon wenden. Frieden überkam sie. Die Madonna war schön, das Jesuskind war schön, die Falten ihres Kleides und die hübsche Landschaft im Hintergrund waren schön; entspannt. Einen Augenblick lang empfand Rose sich als Teil des Bildes, als würde die Schönheit darin auch auf ihr Leben abfärben, wenn sie es bloß sehen könnte.
»Sie schämt sich nicht.«
Olivia betrachtete sie eindringlich. »Nein. Überhaupt nicht.«
»Ich schäme mich dauernd. Die ganze Zeit.«
Die plötzliche Vertraulichkeit erschreckte Olivia. Die Lebensumstände der jungen Frau hätten nicht verschiedener sein können von ihren − sie besaß Jugend, Talent, eine aufblühende Karriere und ein schönes Kind −, doch empfand Olivia selbst nicht ebenso?
Ein überwältigendes Gefühl des Beschützenwollens und der Nähe stieg in ihr auf.
Geführte Gruppen kamen und gingen, Menschen strömten herein und hinaus.
»Glauben Sie, der Maler hat Modelle gehabt?«, fragte Rose nach einer Weile.
»Ganz sicher.«
»Ich frage mich, ob es ihr Baby war. Was meinen Sie?«
»O ja«, erwiderte Olivia, und eine ganze Geschichte über die heimliche Muse des Künstlers und ihr illegitimes Kind entspann sich in ihrem Kopf.
Sie überlegte. Wie viele Madonnen in der Geschichte waren wohl nach den Zügen ungeratener junger Frauen gestaltet worden?
Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Wie konnte sie die Tatsache übersehen haben, dass das am häufigsten gemalte Motiv aller Zeiten eine alleinerziehende
Mutter im Teenageralter war? Eine Frau, deren Leben zweifellos ganz anders verlaufen war als in ihren Kindheitshoffnungen und -träumen. Und doch wurde sie als strahlendes Symbol ewigen Gleichmuts präsentiert.
Vielleicht wurde man erst liebevoll, akzeptierend und ruhig, wenn man begriffen hatte, was es bedeutete, die Kindheitsträume aufzugeben.
Sie saßen noch eine Weile da.
Rose wandte sich dem gegenüberliegenden Gemälde zu.
Es war das »Martyrium des heiligen Sebastian«.
»Schauen Sie!«
»Was?«
»Gott, das ist echt schräg! Ich meine, wie kann ein junger Mann, der an Händen und Füßen gefesselt ist und der Pfeile im ganzen Körper stecken hat, schön sein? Aber schauen Sie!«
»Ich weiß nicht«, räumte Olivia ein.
Und sie empfand etwas, was sie schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte: Staunen.
Das Museum, das sie in- und auswendig kannte, war plötzlich frisch und neu. Sie wusste die Antworten nicht, denn sie waren nicht in einem Stapel kunstgeschichtlicher Bücher zu finden. Das erfüllte sie mit Hoffnung. Das Leben hatte sich ausgedehnt; sie war nicht mehr so voller Angst, dass alles endgültig bewiesen und wegdiskutiert werden musste.
Und war das nicht auch eine Perspektive?
Ganz anders als Brunelleschi und seine mathematischen Formeln, sehr viel mehr Comic und schief, doch irgendwie auch viel realer.
Zwei zum Preis von einem
Henry wartete bereits vor dem Juweliergeschäft Graff, als Hughie kam.
»Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr!«, sagte Henry und schlug ihm auf den Rücken. »Wo warst du?«
Hughie seufzte. »Um ehrlich zu sein, hat es gar keinen Sinn, überhaupt reinzugehen. Ich werde die Ohrringe nicht kaufen.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Sie liebt mich nicht«, bekannte er traurig.
»Unsinn! Ihr hattet eine kleine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht. Nichts, was sich mit einem teuren Geschenk nicht richten ließe.« Er schob Hughie zur Tür. »Abgesehen davon sind wir jetzt hier, und es könnte nicht schaden, wenn ich mich nach den Preisen einiger Verlobungsringe erkundige.«
»Ehrlich?« War es so schnell gegangen? »Wie ist die Witwe Finegold denn so?«
(Henry hatte kürzlich den Auftrag bekommen, mit einer lächerlich wohlhabenden, hoffnungslos gebrechlichen älteren Witwe, Eleanor Finegold aus Kensington Park West, zu flirten. Wie es der Teufel wollte, erfüllte sie seine sämtlichen Bedürfnise an eine zukünftige Ehefrau, die da wären, sie sollte reich sein und mit einem Fuß im Grab stehen. Er ging der Sache mit sehr viel Eifer, wenn nicht gar Begeisterung nach.)
»Oh, sie ist ganz nett, nehme ich an.« Er starrte düster vor sich hin. »Wenn sie bloß nicht so heiß auf Sandwiches mit gehacktem Ei und Zwiebeln wäre.«
Hughie wusste, dass es Henry schmerzte, das zu tun, was er tat. Doch Eleanor Finegold war wenigstens real und hatte genug Geld, um Henry weiterhin mit
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