Der Flirt
Gemälde sehr wichtig. Schauen Sie nur, wie die Geschichte sich übereinander auftürmt, alles geschieht gleichzeitig.«
»Die Wand ist ganz schief«, bemerkte Rose.
»Ja, im späten Mittelalter verstand man noch nichts von Perspektive. Wunderbare Verwendung von Farben, phantastische Bewegung der Falten dieser Stoffe, doch leider konnten die Künstler erst sehr viel später Gebrauch von der Perspektive machen, nach Filippo Brunelleschis berühmter wissenschaftlicher Entdeckung der Perspektive und der Idee des Fluchtpunkts.«
Rose starrte auf das Bild.
»Fluchtpunkt?«
»Ja. Also, wenn Sie es mit diesem Bild hier vergleichen …«
Doch Rose rührte sich nicht.
»Sind Sie sich ganz sicher?« Was Olivia sagte, ergab überhaupt keinen Sinn.
»Worüber bin ich mir sicher?«
»Nun« - Rose konzentrierte sich -, »wenn er nicht perspektivisch malen kann, wie kommt es dann, dass er die Mauer aus all diesen verschiedenen Blickwinkeln darstellen kann? Ich meine, das kann er doch, richtig?«
Olivia neigte den Kopf zur Seite. »Nun …«
»Vielleicht will er es einfach nicht.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich weiß nicht.« Rose zuckte die Achseln. »Es ist nur … vielleicht ist es auch eine Art Comic.«
»Ein Comic?« Olivia war nicht sonderlich beeindruckt.
»Ja. Wissen Sie, in einem Comic wird das Papier in verschiedene Felder unterteilt, um die Geschichte auf einer Seite erzählen zu können. Also, das hier sieht genauso aus. Was ist, wenn sie gar nicht wollen, dass man darüber nachdenkt, was für tolle Künstler sie sind, sondern lieber über die Geschichte? Und die, das müssen Sie zugeben, ist ziemlich cool − ein Typ erweckt die Toten zum Leben und so.«
Olivia versuchte, es diesmal besser zu erklären. »Es ist eine bekannte Tatsache, Red, dass Brunelleschis System der Linearperspektive die ganze Entwicklung von Kunst und Architektur …«
»Ja, da bin ich mir sicher«, unterbrach Rose sie, »ich behaupte ja nicht, dass dem nicht so war. Aber es könnte doch auch sein, dass da noch etwas anderes ist, oder?«
Olivia seufzte. (Die Autorität war hier doch wohl sie.) »Vermutlich.«
»Ich meine, auf verrückte Weise ist es irgendwie absolut realistisch, oder? Schließlich halten die Leute diese Geschichten für wahr, nicht? Und wenn ich mich an Dinge erinnere, erinnere ich mich nicht in der chronologisch korrekten Reihenfolge. Ich erinnere mich an alles auf einmal, alles durcheinander, als würde alles zur gleichen Zeit passieren.«
»Ja …«
Es war lange her, womöglich Jahre, seit Olivia sich den Duccio richtig angesehen hatte. Sie erinnerte sich daran, ihn zum ersten Mal auf einem Dia in einer Vorlesung in Kunstgeschichte gesehen zu haben, als sie die Meinung ihres Professors unkritisch in sich aufgesogen hatte, dieselbe Meinung, die sie jetzt vor Red dozierte.
Sie wandte sich wieder dem Gemälde zu.
»Also, vermutlich ist das eine berechtigte Betrachtungsweise«, räumte sie zögerlich ein.
»Es ist wirklich cool«, sagte Rose.
Sie wanderte in den nächsten Saal, und Olivia schlenderte hinter ihr her.
An der gegenüberliegenden Wand hing eine »Madonna mit Kind« von Piero Della Francesca.
Rose setzte sich davor auf die Holzbank.
Sie hatte immer geglaubt, wahre Kunst sei erhaben und schwierig und man müsse ein Intellektueller sein, um sie zu verstehen. Doch dies war eine Szene, die sie vollkommen verstand.
Die Madonna war so jung wie sie, als sie Rory bekommen hatte. Sie glühte vor stiller Selbstgenügsamkeit, eine Eigenschaft, die Rose sofort erkannte − sie und das Baby waren ganz in ihrer eigenen Welt eingesponnen. In dem ersten Jahr mit Rory waren sie so eng miteinander verbunden gewesen, dass sie mithilfe winziger Gesten oder Laute kommuniziert hatten. Der kleine Jesus zappelte herum, so wie alle Babys herumzappeln, wenn sie laufen wollen, und die Madonna hatte Mühe, ihn auf dem Schoß zu halten. Rose erkannte auch den eifrigen Zeigefinger aller Kleinkinder, der ständig auf irgendetwas zeigte, stets bereit, alles und jeden um sie herum anzustupsen.
Olivia setzte sich neben sie. »Es ist wunderschön.«
»Ja«, stimmte Rose ihr zu. »Und das ist verrückt, denn sie ist doch nur eine alleinstehende Mutter im Teenageralter, nicht wahr?«
Olivia sah Rose überrascht an. Sie hatte noch nie überlegt, in welchem Alter die Madonna war, als sie Jesus gebar. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie in die Gegenwart zu transferieren. Das Bild war stets fern gewesen, ein wenig
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