Der Flirt
Warum machte jemand sich so eine Arbeit? Die mussten etwas zu verbergen haben. Wahrscheinlich war es eine Geheimtür, die, wenn man irgendwo drückte, in einen angrenzenden Raum führte. »Geheimtür!«, schrieb sie kühn und fügte das Ausrufezeichen hinzu, um zu zeigen, dass sie sich ebenfalls sehr amüsiert hatte.
Sechs Selbstporträts von Holbein wurden unter der Überschrift »Ein paar Apostel« zusammengefasst (sie überlegte, warum sie nicht gleich alle gekauft hatten), und der unvollendete Degas wurde mit »Bild eines Mädchens ohne Beine« etikettiert. Die Chaiselongue wurde als »kaputtes Sofa« gebrandmarkt, und die Ming-Vasen als »hübsche Krüge« und der Tisch, ein Elefantenfuß, als »schlecht verbrannter Baumstumpf«. (Über Geschmack ließ sich nicht streiten.)
Als Nächstes wandte sie ihre Aufmerksamkeit der unschätzbaren Sammlung von Figuren aus Dresdner Porzellan zu, die sich auf dem Kaminsims drängten. Es gab zwei Wörter, die man für so etwas benutzen konnte. Rose hatte ihren Vater, der einen Trödelladen geführt hatte, beide benutzen hören. Und sie wollte Mr. Gaunt unbedingt mit ihrer Sachkenntnis beeindrucken.
Es war nicht Nippes und Trödel, aber etwas Ähnliches … Ah!
»Schnick-Schnack«, schrieb sie rasch.
Und der Sammlung winziger Cloisonné-Schnupftabakdosen
aus dem siebzehnten Jahrhundert teilte sie den anderen Fachbegriff zu, »Krimskrams«.
Doch dann zögerte Rose.
Das war das Problem, wenn man allzu clever sein wollte, es gab immer etwas, was einen ins Straucheln brachte.
Der Hauptunterschied zwischen Schnick-Schnack und Krimskrams war doch sicher die Größe des Gegenstands.
Doch was war größer?
Ihr Selbstbewusstsein geriet ins Wanken. Sie hatte nur noch wenige Minuten, und es gab noch so vieles zu etikettieren.
Roses Konzentration ließ nach.
»Verblichener alter Teppich«, kritzelte sie und ließ die Karte auf den Aubusson fallen. »Ein halber Tisch« landete auf dem Demi-Lune-Konsolentisch und »Witziger Zerrspigel« auf dem großen georgianischen konvexen Spiegel über dem Kaminsims.
Noch zwei Minuten. Rose bekam Panik. Die Prachtausgabe des Stundenbuchs des Herzogs von Berry wurde mit »Illustrierte Bibel« etikettiert . Sie runzelte die Stirn. »Schmutzige Bilder«, kritzelte sie geringschätzig auf den von Helmut Newton signierten Bildband. (Man würde doch denken, sie besäßen so viel Anstand, so etwas wenigstens zu verstecken!)
Nur noch eine Minute!
Sollte sie die Kärtchen tauschen?
Ihre Kehle wurde eng, ihr Herz raste. Alle früheren Fehlschläge und verpassten Gelegenheiten kondensierten in dieser einen Aufgabe. Wozu sollte das überhaupt gut sein? Sie hatte doch schon bei dem Bestecktest versagt. Und bei dem mit dem Silberzeug. Ihr ganzes Leben bestand aus einem dämlichen Fehler nach dem andern!
Und im Schatten dieser plötzlich über ihr hereinbrechenden Depression entglitt Rose jedes Niveau.
»Noch so ein blöder Stuhl«: der viktorianische Lesesessel, »zwei hässliche Homos«: die Porträts von Arnauds Ururgroßvater und Onkel, »ein Haufen Fremder«, die Sammlung von Familienfotografien in Silberrahmen auf dem Klavier. Und auf den Steinway legte sie eine Karte mit Großbuchstaben: »ICH WETTE, HIER SPIELT EH NIEMAND!«
Und so weiter.
Bis Mrs. Bourgalt du Coudray persönlich eintrat, gefolgt von Simon Grey.
Wie es in großen Häusern oft der Fall war, spielten sich auch hier zur selben Zeit sehr viele Dinge gleichzeitig ab. Während Gaunt also damit beschäftigt war, junge vielversprechende Menschen für die Position der Juniorassistentin oder des Juniorassistenten der amtierenden stellvertretenden Hauswirtschafterin auf Herz und Nieren zu prüfen, führten irgendwo ein Stockwerk über ihm Simon Grey und Olivia ihre eigenen fieberhaften Bewerbungsgespräche, um Ersatz für Roddy Prowl zu finden. Sie hatten auf der Suche nach einem wagemutigen, originellen und vorzugsweise anstößigen jungen Künstler, der Roddys Platz einnehmen sollte, die Kunstschulen von London abgeklappert, und man hatte ihnen versprochen, bevor der Tag sich neigte, würden mehrere Kandidaten am Chester Square 45 vorsprechen. In Studentenbuden überall in London stellten junge Künstler tatsächlich Mappen zusammen, warfen sich etwas zum Anziehen über und tranken Unmengen Kaffee, um rechtzeitig nüchtern zu werden und Eindruck auf dieses mächtige Duo zu machen.
Doch das alles hätten sie sich sparen können.
Denn das Schicksal hatte etwas anderes im
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