Der Flirt
Disziplin.«
Es klang so edel. Hughie hatte noch nie im Leben ein Ziel gehabt. Henrys Worte sickerten bis in sein Innerstes. Konnte es sein, dass er zu einer höheren Berufung bestimmt war?
Sie gingen weiter.
Nach einer Weile fragte Hughie: »Also? Wie machst du es? Was ist der Trick?«
»Was?« Henry blieb stehen, um eine Frau in hochhackigen Schuhen vorbeimarschieren zu lassen, die ihre Handtasche hin und her schwang wie eine Waffe.
»Flirten.«
»Die Sache beim Flirten ist, es nicht als Flirten zu betrachten. Sobald man das tut, wird es künstlich und falsch. Der Trick, falls es einen Trick gibt, ist, Beachtung zu schenken. Aufmerksam zu sein. Was du sagst, ist zweitrangig. Und vergiss allzu poetische Phrasen. Einfache Dinge sind am besten. Details zu bemerken ist gut, denn es zeigt, dass du
wirklich aufmerksam bist: ›Ich habe noch nie solche grünen Augen gesehen‹, aber nicht: ›Ihre Augen sind wie zwei schimmernde Smaragde.‹ Frauen wollen nicht endlos umschmeichelt werden. Sie wollen schlicht das Gefühl haben, dass es ein Vergnügen ist, mit ihnen zusammen zu sein.«
»Okay.« Hughie zog die Augenbrauen zusammen. »Um zu flirten, versuchst du, nicht zu flirten, sondern aufmerksam zu sein.«
»Ein erfolgreicher Flirt durchläuft immer drei Stadien: beobachten, Kontakt herstellen und neu definieren … also, das zu nehmen, was die Frau zu sein glaubt, und es ein wenig aufzupeppen. Die Matrone will hören, dass sie sexy ist oder avantgardistisch. Die junge Mutter will gesagt bekommen, dass sie alles tadellos bewältigt und sich überhaupt nicht verändert hat. Die Weltgewandte will hören, dass sie wunderbar ungekünstelt, ja sogar charmant ist. Deine Aufgabe ist es, unter die Oberfläche zu sehen.«
»Und wie macht man das?«
»Du bist aber wissbegierig!« Henry lachte. »Na gut. Das zeige ich dir am besten.« Er führte Hughie die Brook Street hinunter und in die prächtige Lobby des Claridge’s Hotel.
Sie setzten sich an einen der kleinen runden Tische im Foyer, das von plötzlichen frühabendlichen Aktivitäten summte, die Touristen verbreiten, wenn sie von einem langen Sightseeing-Tag zurückkommen. Ein Streichquartett spielte Mozart, und das exotische Ritual des Fünf-Uhr-Tees neigte sich allmählich dem Ende zu. Hotels waren der einzige Ort, wo es noch nach alter Tradition zelebriert wurde, wie kleine historische Dramen für Menschen, die nur in Büchern davon gelesen hatten. Henry bestellte für sie beide einen Drink, lehnte sich dann zurück und betrachtete die Szene, die sich um ihn herum entfaltete.
»Da«, sagte er alsbald und zeigte auf eine Frau, die mit
zwei kleinen Kindern ein gutes Stück von den anderen Gästen entfernt an einem Tisch saß. »Was kannst du mir über sie sagen?«
Hughie schaute quer durchs Foyer. Die Frau war etwa zweiundvierzig, hatte dunkles, schulterlanges Haar und trug eine maßgeschneiderte Hose und eine steife weiße Bluse. An den Händen funkelten zahllose Ringe, an ihren Handgelenken klimperten goldene Armbänder, um den Hals trug sie eine schwere goldene Kette und dazu ein Paar passender, langer Ohrringe. Ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt, für Hughies Geschmack allerdings zu stark. Sie saß lustlos da, während das kleine Mädchen und der Junge um den Tisch tobten und sich um einen Gameboy stritten. Der Tisch war zum Fünf-Uhr-Tee gedeckt, und auf den Tellern der Kinder lagen halb aufgegessene Kuchenreste, doch der Teller der Frau war leer. Vor ihr stand eine Tasse kalten Schwarztees, und zu ihren Füßen reihten sich zahlreiche Einkaufstaschen von exklusiven Designer-Boutiquen. Die Kinder, die vielleicht fünf und sieben Jahre alt waren, waren gekleidet wie zwei Ralph-Lauren-Models, in tadellose, fast viktorianische Kindersachen. Als der Streit über den Gameboy hitziger wurde, zuckte sie zusammen und zischte ihnen etwas zu, was Hughie nicht hören konnte. Sie schauten ängstlich zu ihr auf. Das Mädchen schalt den Jungen und gab ihm einen Schubs. Mürrisch setzten sie sich wieder auf ihre Stühle.
»Also, sie ist verheiratet …«, fing Hughie an. »Sie hat zwei Kinder. Sie muss reich sein, sie hat sehr viel eingekauft …«
»Was glaubst du, wie sie sich fühlt?«, drängte Henry.
Hughie kniff die Augen zusammen. »Müde?«
Harry trank noch einen Schluck Whisky Soda. »Ist das alles?«
»Ich weiß nicht. Hungrig?«
»Ich würde sagen, sie hungert. Aber nicht nur nach Essen.« Er beugte sich vor. »Zuerst einmal, sie ist Amerikanerin.
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