Der Flirt
Wahrscheinlich von irgendwo aus der Provinz, vielleicht aus dem Mittleren Westen, eindeutig nicht aus New York oder L. A. Deswegen sind die Kinder gekleidet wie Statisten aus Mary Poppins , und ihr Make-up ist seit zehn, nein, eher fünfzehn Jahren, überholt.«
Hughie war verblüfft. »Woher weißt du das?«
»Man bekommt ein Gefühl für solche Dinge. Man sieht leicht, dass sie nicht aus Europa stammt, sie hat überhaupt nichts Natürliches an sich.«
»Oh.«
»Zweitens«, fuhr er fort, »hat sie einen reichen Mann geheiratet, hat aber selbst keinen Beruf. Es ist unwahrscheinlich, dass das Geld ihres ist. Unabhängige reiche Frauen geben Geld nicht so offensichtlich aus. Sie machen natürlich auch Einkaufsbummel. Aber was du hier siehst ist Shoppen aus Rache. Sie gibt das Geld ihres Mannes aus, sie häuft so viele Taschen an, wie sie kann, um von ihm zu nehmen, was sie kriegen kann.«
»Sie könnte einen Job haben.« Hughie hatte plötzlich das Gefühl, sie gegen Henrys Beurteilung verteidigen zu müssen.
»Siehst du, dass sich ihre Haare überhaupt nicht mit ihrem Kopf bewegen? Das liegt daran, dass es jeden Tag geföhnt wird. Berufstätige Frauen haben für so etwas keine Zeit, genauso wenig wie für die frisch manikürten Fingernägel.«
»Verstehe.« Hughie fühlte sich gehörig zurechtgewiesen.
»Sie ist gelangweilt, deprimiert und hat, wenn ich mich nicht irre, ihren Mann in letzter Zeit nicht zu Gesicht bekommen, ganz zu schweigen davon, romantische Aufmerksamkeit von ihm erhalten.« Er beugte sich vor. »Siehst du, dass sie die Hälfte der Bulgari-Kollektion trägt? Ein sicheres
Zeichen für mangelndes Selbstvertrauen. Zu viel Schmuck, zu viel Make-up, diese Dinge sind für Frauen wie ein Panzer. Sie glaubt offensichtlich, sie hat etwas zu verbergen. Also, was braucht sie?«
Hughie lächelte matt. »Einen guten Therapeuten?«
Henry seufzte. »Von dir.«
Hughie betrachtete sie wieder. Ein Kellner wollte die Teller abräumen, und sie fuhr ihn an wie ein kleiner Hund, dem jemand auf den Schwanz getreten ist. Der junge Mann zog sich zurück, und eine Weile saß sie nur da, die Finger auf die Augen gedrückt.
Irgendetwas an ihr erinnerte ihn an seine Mutter, an das überwältigende Gefühl des Versagens, das sie zu umgeben schien wie eine Wolke, als er klein gewesen war.
»Sie muss hören, dass sie irgendetwas gut kann«, sagte Hughie leise.
Henry lächelte. »Das ist gut. Sehr gut. Wie könntest du das bewerkstelligen, was meinst du?«
Hughie nahm noch einen Schluck.
Das war der beste Job, den er in seinem ganzen Leben je gehabt hatte. Doch er hatte hoffnungslos den Boden unter den Füßen verloren.
Der kleine Junge schaute auf und begegnete seinem Blick. Und bevor er noch recht wusste, was er tat, streckte Hughie ihm die Zunge heraus.
Der Junge kicherte.
Hughie tat, als achtete er nicht auf ihn, und warf dann noch einmal einen Blick hinüber. Diesmal zog der Junge eine Grimasse, und seine Schwester quietschte vor Vergnügen.
Sehr langsam drehte die dunkelhaarige Frau sich um.
»Tut mir leid«, sagte sie gedehnt. »Belästigen meine Kinder Sie?«
Hughie glaubte, einen Hauch Angst in ihrer Stimme zu
hören. »Nein, ganz und gar nicht.« Er lächelte. »Außer der da«, fügte er hinzu und zwinkerte dem kleinen Jungen zu. Das Kind kicherte wieder und wand sich auf seinem Stuhl vor Schadenfreude.
»Oh, er ist ein kleiner Teufel!«, stimmte seine Mutter ihm zu. Und als er lächelte, richtete sie den Blick auf das Gesicht ihres Sohnes. In ihrer Miene lag unverkennbare Zärtlichkeit.
Sie liebt ihn, dachte Hughie. Henry hat recht: Sie ist nicht besonders selbstsicher.
»Sind Sie länger in der Stadt?«, fragte Henry und beugte sich vor.
»Nein, wir reisen morgen nach Paris weiter und von da nach Rom. Ich wollte, dass die Kinder Europa sehen.« Sie klang sehnsüchtig. »Sie wissen schon, Amerikaner im Ausland«, fügte sie fast entschuldigend hinzu.
»Ah! Eine Grand Tour!« Henry grinste. »Es gibt nichts Schöneres!«
»Eine Grand Tour?«
Der kleine Junge war von seinem Stuhl gerutscht, war so nah zu Hughie gekommen, wie er es wagte, und wartete darauf, dass er etwas Ungezogenes tat.
Hughie steckte sich einen Zuckerwürfel in die Nase.
»O ja! Eine jahrhundertealte britische Tradition. Die unschätzbare Bildung der westlichen Zivilisation; Überflutung der jugendlichen Empfänglichkeit mit der reichen Geschichte und der außergewöhnlichen Ästhetik der Hauptstädte Europas … Das ist
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