Der Fluch der Druidin
ihn. Sie ist … Sie hat sich ihm freiwillig hingegeben.«
Talia und Atharic wechselten einen Blick. »Das ist es!«, rief Talia. »Was hat er ihr angetan?«
»Ich weiß es nicht genau! Erst hat er sie verführt, dann hat er sie verraten. Er ist kein Mann, der ihrer Liebe würdig ist. Sumelis ist zu gut für ihn! Sie ist, ich meine, sie war wie ein Spielzeug für ihn. Er hat sie fallenlassen! Einfach so!«
»Wer ist dieser Mann? Was wisst Ihr über ihn?«
»Wie gesagt, er ist wie ein Sohn für Boiorix. Ich weiß nicht alles, ich stieß erst später zum Zug, viel später, aber es heißt, er sei der Sohn eines alten Feindes des Königs, der Sohn eines Verräters. Als Junge hat er seine Familie verlassen und ist ganz alleine den Kimbern gefolgt, bis er sie schließlich erreichte und zu Boiorix’ bestem Gefolgsmann wurde. Er, Nando, ist kalt, brutal! Sumelis kennt ihn nicht wirklich!«
»Wie heißt er?«
Viriotali fiel die plötzliche Entgeisterung in Atharics Stimme nicht auf. Er plapperte einfach weiter: »Ich habe versucht, Sumelis zu warnen, aber sie wollte nicht hören! Und dann wurden wir erwischt, als wir flohen. Von Nando war weit und breit nichts zu sehen, es kümmerte ihn nicht einmal! Boiorix, er hat mich bedroht, und dann habe ich ihm erzählt –«
»Nando«, unterbrach Atharic, der unter der gebräunten Haut leichenblass geworden war. »Habt Ihr gerade ›Nando‹ gesagt?«
»Ja, wieso?«
Atharic sprang erregt auf. Eine der Kühe, die am anderen Ende des Gebäudes untergebracht waren, hob den Kopf und muhte nervös. Talia streckte eine Hand nach Atharic aus, doch er schüttelte sie ab.
»Kennt Ihr auch den Namen seines Vaters?«, krächzte er. »Nandos Vaters?«
Viriotali runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht mehr genau. Ich habe ihn bestimmt einmal gehört. Es war der Anführer eines kleinen Stammes. ›Rabenvolk‹ nannten sie sich, wenn ich mich recht entsinne. Aber das war lange vor meiner Zeit.«
»Lautete der Name des Vaters Atharic?« Talias Stimme klang mittlerweile genauso belegt wie die ihres Mannes.
»Ja, das stimmt«, rief der Krüppel erstaunt aus. »Nandos Vater, genau! Atharic! Weshalb interessiert Euch das?«
Die beiden antworteten nicht. Sie sahen sich an, und in ihren Blicken lag alles Entsetzen, dessen ein Mensch fähig war.
»Er ist ihr Bruder!«, flüsterte Atharic fassungslos.
Talias Augen weiteten sich noch ein wenig mehr.
Und dann wurde sie noch eine Spur blasser.
Talia fand Atharic dort, wo sie ihn immer fand, wenn ihn etwas bedrückte: bei den Pferden. Wie ein Wolf strich er am Zaun der kleinen Koppel entlang, die Schultern gegen den gemächlich ins Dunkelblaue gleitenden Himmel emporgezogen, die Hände in den Gürtel gehakt. Die Pferde witterten seine Anspannung und hatten sich mit übereinandergelegten Hälsen in der Mitte der Koppel zusammengedrängt. Für sie gab es Trost, dachte Talia, während sie ihren Mann bei seinen rastlosen Runden beobachtete. Aber Pferde kannten auch keine Lügen.
Trotz der lauen Nacht fröstelte es Talia. Sie verschränkte die Arme und rieb mit den Handflächen über ihre Ellbogen. Sie wusste, Atharic hatte sie bemerkt, obwohl er keine Anstalten machte, zu ihr zu kommen. Seine ruhelosen Schritte waren schwerfälliger als sonst, gedrückt von einer unsichtbaren Last. Talia versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann gerade empfinden musste, doch es gelang ihr nicht ganz. Ob er sich Vorwürfe machte? – Bestimmt. Vorwürfe, Enttäuschung, Sehnsucht, Angst. Was musste noch alles in ihm vorgehen? Normalerweise waren solche durcheinanderwirbelnden Gefühle Talias Spezialität, nicht Atharics. Allerdings war Talia auch niemals gezwungen gewesen, ihre Kinder aufzugeben, ohne sie weiterzuziehen, nur um Jahre später zu erfahren, dass sie der Feind waren.
Aber war Nando tatsächlich ein Feind? Talia biss die Zähne aufeinander, bis die Kiefer knackten. Davon mussten sie ausgehen, oder nicht? Nach allem, was Viriotali ihnen erzählt hatte, hatte Nando Sumelis entführt und verraten. Schlimmer noch, er hatte ihre Liebe verraten.
Am Ende seiner nächsten Runde blieb Atharic vor Talia stehen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, einen Moment später knallte seine Faust gegen einen Zaunpfosten.
»Nando!«
Atharic stieß den Namen mit so viel Schmerz hervor, dass es Talia fast das Herz zerriss. Aber sie wagte nicht, an Atharic heranzutreten und sich an ihn zu schmiegen, denn was sie ihm gleich zu sagen hatte, würde alles noch
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