Der Fluch der Druidin
Nacht zogen sich zurück in ihre dunklen Ecken, wo die Erinnerungen sie nicht finden konnten, um erst am Abend kreischend wiederzukehren: Gespenster, die zwischen von Moos überwachsenen Bäumen umherhuschten und Boiorix zubrüllten, seine Seele würde die Erlösung, die sie suche, niemals finden. Gefangen in der sumpfigen Welt jenseits dieser, in der sein Traum-Ich umherirrte, verfolgt und gejagt, würde er sich die Hände über die Ohren schlagen, vergebens. Selbst tausend Hände würden die Stimmen nicht auslöschen können. Ihre spottende Kakophonie würde ihn immer weitertreiben, sein modernder Körper eine taumelnde Spur, der kein Tier bereit war zu folgen.
Versagt. Besiegt.
Boiorix trank den Becher in einem Zug leer.
»So ist es gut.« Rascils Stimme nahm einen schnurrenden Klang an, als wäre er ein kleiner Junge und nicht Herrscher eines ganzen Stammes und Anführer Zigtausender Krieger. »Heute Abend werde ich Euch wieder einen Trank bereiten. Er wird Euch helfen.«
»Der letzte hat auch nicht geholfen.«
»Ich werde das Blut der Opfer des heutigen Tages hineinmischen. Dieser wird sicher helfen!«
»Wieso nehmt Ihr nicht einmal Euer eigenes Blut, Priesterin?« Die spöttische, stets leicht keuchende Stimme trieb Rascil rote Flecken auf die Wangen. Sie sprach kimbrisch, doch der keltisch-helvetische Akzent war unverkennbar. »Wenn das Blut normaler Menschen schon so große Wirkung hat, was für Zauberkräfte müssen sich dann erst in Eurem befinden?«
Die Gestalt, die unter das Sonnensegel trat, bewegte sich ruckhaft und schwerfällig, obwohl sie noch nicht alt war, jünger als Boiorix und womöglich so alt wie sie selbst, schätzte Rascil, während ihre Nasenflügel wie immer, wenn sie den Krüppel sah, zu beben anfingen. Sie hasste den Anblick dieses kleinen Körpers mit dem leicht nach vorne gebeugten Rücken, den kurzen Beinen mit ihrem watschelnden Gang und den Armen, von denen einer so verkrüppelt war, dass er nicht einmal die Zügel eines Pferdes halten konnte. Als ein Kind ihres Volkes einst im Norden so geboren worden war – Rascil war damals noch ein junges Mädchen gewesen –, hatten die älteren Priesterinnen dafür gesorgt, dass das Neugeborene mit dem großen Kopf und viel zu kurzen Extremitäten im Schnee ausgesetzt wurde. Den kalten Winterwinden überantwortet, hatte die Missgeburt nicht lange geschrien, bis die Herrscherin über das Totenreich sie zu sich holte. Dass dieser Krüppel lebte und sich Mann nennen durfte, war Rascils Meinung nach ein weiteres Zeichen für die Dummheit der keltischen Druiden, die sich zwar rühmten, sich mit den Gesetzen der Seele auszukennen, aber offensichtlich keine Ahnung hatten von den Gesetzen der Götter und Menschen. Vielleicht lag es daran, dass sie niemals wirklichen Hunger kennengelernt hatten, die Entbehrungen eines harten Winters, in dem eine Familie entscheiden musste, ob das Neugeborene leben oder sterben sollte, weil die Nahrung nicht reichte, und die Alten in den Schnee hinausgingen, um niemals wieder zurückzukehren. O ja, Rascil erinnerte sich an diese Zeiten, in denen sie zusammen mit den anderen Geschwistern aus in tiefen Höhlen liegenden Augen zusah, wie der Erstgeborene die Schüssel leer aß, gleichgültig seinen Schwestern und Brüdern gegenüber, welche auf die Reste warteten, die von seinen Fingern zu Boden tropften. Rascil hatte sie überlebt. Die Erfahrungen hatten sie stark gemacht, wie sie alle stark gemacht hatten, die es verdienten, die das Leben an sich rissen, mitsamt den Wurzeln und allem, was sich zwischen ihnen verfing.
»Was wollt Ihr hier, Krüppel?«, fragte sie ungehalten und widerstand dem Drang, ihn mit einem Fußtritt hinaus in die Hitze des Vormittags zu befördern. »Gibt es nirgendwo ein Schaf, das Ihr zureiten könnt?«
Ihre Beleidigung prallte an Ohren, die schon viel Schlimmeres vernommen hatten, ab. »Ich habe gehört, wie Ihr über die Tiguriner gesprochen habt. Wenn Ihr über meine helvetischen Brüder redet, fühle ich mich selbstverständlich berufen, dem König meinen Rat anzubieten.« Der Krüppel verbeugte sich überraschend geschickt in Boiorix’ Richtung. »Wie es meinem Dienst als königliche Geisel und Ratgeber angemessen ist.«
»Ihr habt gelauscht!«
»Nein, es war reiner Zufall, dass ich kam, um mich nach Boiorix’ Gesundheit zu erkundigen. Ich hörte, es ginge ihm nicht gut?«
Boiorix warf den Entenschlegel, der vom gestrigen Mahl übrig geblieben war und an dem er lustlos
Weitere Kostenlose Bücher