Der Fluch der Halblinge
mancher Gang führen mochte!
Das war nichts Ungewöhnliches bei den Menschen, die sich ständig bekriegten – aber dies ausgerechnet hier, an diesem Vorbild des Friedens vorzufinden, war ein Schock. Noch dazu, da nie darüber gesprochen worden war!
»Meister Ian, ich habe jetzt genug Geduld aufgebracht«, schnarrte Pirmin. »Ich habe mit Euch gesprochen und Euch versichert, dass es den Gefangenen gut geht. Wir werden sie alle nacheinander verhören, und dann werden sie wieder auf freien Fuß gesetzt, dessen bin ich sicher – sobald ihre Unschuld erwiesen ist. Es gibt da eine Menge Ungereimtheiten, die wir klären müssen, und vor allem muss diese schändliche Tat aufgeklärt werden. Stellt Euch vor, wenn kein Herr mehr seinem Sklaven blindlings vertrauen kann! Ich muss herausfinden, wozu diese Sklaven wirklich fähig sind. Und damit habe ich Euch mehr gesagt, als Euch zusteht. Aber vielleicht versteht Ihr es jetzt. Nun ist es genug, geht, geht alle!«
Aber niemand rührte sich. Spannung kam auf, die beiden Wachen zogen sich an die Seiten zurück. Wie würde Pirmin nun reagieren? Würde er tatsächlich mit den Palastwachen gegen die Menschen und Elben vorgehen, um sie aus dem Schloss zu treiben? Das wäre ebenso einmalig wie ein mordender Bogin.
Meister Ian spürte, wie sich die Stimmung aufheizte, vor allem auf Seiten der Menschen. Er musste schnell etwas unternehmen, sonst passierte ein Unglück. So etwas war, solange er zurückdenken konnte, noch nicht passiert. Schwand die Macht der Àrdbéana durch ihre Erkrankung dahin? Sie war es, die alles zusammenhielt – aber anscheinend in noch viel größerem Ausmaß als angenommen. Das Gleichgewicht war allein durch ihre sogenannte Unpässlichkeit in Gefahr …
»Lasst mich mit der Àrdbéana sprechen«, forderte er Pirmin auf.
»Das ist völlig ausgeschlossen, sie leidet zu sehr«, lehnte der ab.
Meister Ian schüttelte den Kopf. »Vorher werden wir nicht gehen. Die Lage ist mehr als heikel für Euch, und ich kann nicht einfach so abziehen. Ihr kennt mich. Die Ratsversammlung könnte schneller einberufen werden, als Euch lieb ist. Also entscheidet Euch.«
Die Wangenmuskeln in dem hageren Gesicht des Obersten Haushofmeisters zuckten, und Zorn glühte in seinen Augen. »Also schön«, gab er schließlich nach und hob die Hand abwehrend hoch, als er eine Bewegung in der Menge sah. »Aber nur Ihr, und nur für ein paar Augenblicke. Die Lage ist prekärer, als Ihr ahnt.«
Davon konnte Meister Ian sich überzeugen, als er zum Schlafgemach der erlauchten Herrscherin geführt wurde. Es war ein gutes Stück Weg dorthin, der zumeist durch außen liegende Gänge führte, durchweg erhellt von großzügigen Fensterfronten, deren Rahmen kunstvoll als Blumenranken nachgebildet waren. Für den Winter wurde Glas eingesetzt, um die Kälte abzuweisen, doch im Sommer waren sie offen und luftig. Die Àrdbéana hatte ihre privaten Gemächer in einem Flügel zum Innenhof, wo sie direkt von ihren Räumen aus den zauberhaft angelegten Hain und Garten betreten konnte. Alles war genau aufeinander abgestimmt, wie es die Elben liebten. Große, alte Bäume mit mächtigen Kronen, blühende Büsche, kleine Bäche und Teiche. Die Wege waren mit glitzerndem Quarzkies befestigt, über hölzerne Stufen konnten Wandelwege zwischen den Bäumen in unterschiedlicher Höhe erreicht werden.
Das Schlafgemach zu betreten, war normalerweise nur ganz wenigen Angehörigen des engsten Hofstaats gestattet, doch der Oberste Haushofmeister machte jetzt eine Ausnahme. Meister Ian hatte ihm den Ernst der Lage nur zu deutlich gemacht, und da er selbst seit Jahrzehnten ein enger Vertrauter der Herrscherin war, ließ Pirmin es zu, dass der Gelehrte das Allerheiligste betreten durfte.
Meister Ian fühlte sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut, als er die beiden Kammerzofen mit kummervollen Gesichtern am Fenster stehen sah, während er sich auf Pirmins wortlose Anweisung bis auf wenige Schritte dem Bett näherte. Er fühlte sich plötzlich als ungehobelter Eindringling, der jeglichen Respekt vermissen ließ. Doch nun konnte er nicht mehr zurück.
Die Vorhänge des Baldachins waren heruntergelassen, halb durchsichtige Seidenschleier, hinter denen der Gelehrte die Umrisse der Königlichen ausmachen konnte, deren Haupt auf einem hohen Kissen ruhte. Sie war es, er hegte keinen Zweifel, selbst jetzt leuchtete sie noch, und keine andere Frau konnte filigranere Umrisse haben als sie.
Ihm wurde schwer ums Herz,
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