Der Fluch der Maorifrau
essen.«
Mit diesen Worten bat sie die beiden jungen Frauen an den Esstisch. Es gab Lamm, und während Liz sich reichlich davon auf den Teller füllte, erklärte sie: »Ich bin wahrlich keine Expertin, aber ich versuche, Ihnen das weiterzugeben, was ich weiß. Also, schießen Sie los!«
Sophie überlegte kurz, ob sie vorgeben sollte, es handele sich um eine fremde Geschichte, doch sie entschloss sich, nicht um den heißen Brei herumzureden. Das fiel ihr nicht leicht. »Es ist die Geschichte einer meiner Ahninnen«, begann sie zögernd, »Judith, du weiß ja, die Aufzeichnungen meiner Mutter ...«
Die Anwältin nickte mit wissendem Blick.
»Also, es war wahrscheinlich meine Urururgroßmutter, die einst ihrem Mann aus Hamburg nach Neuseeland folgte. Sie wurde Augenzeugin, als ihr Mann einer jungen Maorifrau großes Leid zufügte. Ihren Namen habe ich vergessen, aber ich weiß, es war etwas mit ›Hine‹ und hieß übersetzt ›Nebelfee‹. Jedenfalls hat sie einen Fluch über die Familie meiner Ahnin und deren Nachkommen verhängt. Sie sollte ihre Kinder verlieren! Die Familie solle dem Untergang geweiht sein. Natürlich glaube ich nicht an so etwas, aber vielleicht wissen Sie, was die Maori über solche Flüche denken. Ich meine, wie gesagt, ich halte es für völlig abwegig. Ich bin ja sehr realistisch, aber ...« Sophie holte Luft und fuhr gehetzt fort: » ... in meiner Familie häuften sich danach die Schicksalsschläge. Meine Ahnin Anna hat nicht nur ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, sondern auch ihr ungeborenes Kind verloren. Zum Glück hat ihre Enkeltochter überlebt. Sonst würde ich heute nicht hier sitzen.«
Judith schien Sophie gebannt zuzuhören, während sich das Gesicht ihrer Großmutter bei jedem Wort mehr verfinsterte.
»Und was hat Ihr Ahnherr der jungen Frau angetan?«, fragte Liz tonlos.
»Er hat ihr absichtlich in den Bauch getreten, sodass sie ihr ungeborenes Kind verloren hat.«
»Hm, dazu fällt mir leider gar nichts ein«, antwortete Liz hastig, stand abrupt auf und verließ das Zimmer.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, raunte Sophie ihrer Freundin zu.
»Nein, ich weiß auch nicht, warum sie plötzlich so merkwürdig ist, aber ich denke, es ist das Alter. Sie ist fast neunzig, musst du bedenken«, versuchte Judith das schroffe Verhalten ihrer Großmutter zu entschuldigen.
In diesem Moment erschien Liz wieder. Sie hielt das geschenkte Aquarell in der Hand und brachte leicht gepresst hervor: »Es passt leider nicht zu den Farben der Einrichtung«, und drückte es der verdutzten Sophie in die Hand.
»Aber Liz, das ist nur ein Hotelzimmer, aus dem du nach ein paar Wochen wieder ausziehst«, widersprach Judith energisch, aber die alte Dame maß ihre Enkelin mit einem Blick, der besagte, dass sie nicht darüber zu diskutieren wünsche. Dann schützte sie eine plötzliche Müdigkeit vor, die signalisierte, dass die Besuchszeit vorüber war.
Judith wirkte sichtlich verwirrt, als Liz Sophie zwar mit höflichem Handschlag verabschiedete, sie aber beinahe aus der Tür schob. Sie wollte schon mit der Freundin gehen, als die alte Dame befahl: »Kind, mit dir muss ich noch reden. Deine Freundin kann ja schon mal im Wagen warten. Es dauert auch nicht lange.«
Sichtlich verwirrt blieb Sophie im Flur stehen, aber die Stimme der Großmutter war so durchdringend, dass sie diese selbst bei angelehnter Tür noch laut und deutlich vernahm.
»Woher kennst du diese Frau?« Das klang vorwurfsvoll.
»Sie ist eine Mandantin. Ihre Mutter ist in der Nähe von Dunedin tödlich verunglückt; wir sind die Testamentsvollstrecker.«
»Aber sie ist doch gar nicht von hier, oder?« Der Ton war scharf.
Sophie überlegte, ob sie unten vor dem Hoteleingang auf die Freundin warten solle, aber ihre Neugier siegte. Womit mochte sie nur den Zorn der alten Frau erregt haben?
»Sie ist aus Hamburg und kannte die neuseeländische Geschichte ihrer Familie bis vor kurzem nicht einmal. Ihre Mutter hat ihr jedoch Aufzeichnungen hinterlassen, die ihr alles erklären.«
»So? Alles?«, fragte die Großmutter gedehnt und fügte zornig hinzu: »Auch, dass ihr Vorfahre eine deiner Ahninnen in den Tod getrieben hat?«
»Versteh ich nicht!«, entgegnete Judith, während Sophie auf ihrem Lauschposten langsam schwante, was geschehen war. »Oh nein!«, murmelte sie in sich hinein. »Bitte nur das nicht!«, doch da schmetterte Liz ihrer Enkelin bereits die ganze Wahrheit entgegen.
»Die junge Maorifrau, die die Familie deiner
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