Der Fluch der Maorifrau
dem Handy neben dem Bett und der Barriere vor ihrer Tür fühlte sie sich sicher.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Manuskript. Warum nur?, fragte sich Sophie, was für ein Motiv kann der Mann haben? Was hat er davon, wenn ich tot bin? Plötzlich glaubte sie zu wissen, warum er ihr nach dem Leben trachtete. Wenn sie starb, hatte sie nur einen Verwandten, der alles erben würde: ihren Bruder, Tom McLean! Ihre Hände zitterten so, dass sie nicht weiterlesen konnte. Die Angst vor dem, was sie erwartete, trieb ihr Kälteschauer durch den Körper, und sie kroch ganz tief unter die Decke.
Dunedin, 8. Mai 1962
Emma hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, als sie sich an diesem Morgen aus dem Haus schlich und Kate in dem Glauben ließ, sie fahre in die Redaktion. Das weiße Taftkleid, das sie sich heimlich gekauft hatte, hatte sie unter einem Trenchcoat versteckt. Ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass sie nicht wie eine strahlende Braut aussah.
Sie hatte in der vergangenen Woche kaum ein Auge zugetan. Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob sie das wirklich tun sollte. Doch Harrys Worte brannten ihr noch in den Ohren: In einer Woche um elf Uhr auf dem Standesamt. Ich habe alles vorbereitet. Und zu niemandem ein Wort. Auch nicht zu deiner Großmutter! Du musst mir gehören, verstehst du? Ich kann es nicht mehr erwarten.
Emma stieß einen tiefen Seufzer aus.
Das drängende Verlangen ihres Körpers, diesem Mann endlich ganz zu gehören, zerstreute ihre Zweifel augenblicklich. Und doch fühlte sie sich heute schrecklich einsam. So hatte sie sich ihre Hochzeit nicht vorgestellt.
Auf dem Weg zum Standesamt hatte sie eine Idee. Wenn sie schon ohne Kate heiraten musste, wollte sie wenigstens eine Freundin als Trauzeugin dabeihaben.
Emma hatte Glück. Caren war zu Hause. Atemlos erklärte Emma ihr, worum es ging.
»Du hast doch einen Vogel«, sagte die Freundin empört, als Emma mit ihrer Geschichte am Ende war. »Du kennst den Mann doch gar nicht! Und unter uns, auf deinem Geburtstag hat er nicht gerade den besten Eindruck gemacht. Wir haben uns alle gefragt, was bloß mit dir los ist!«
»Kommst du jetzt mit oder nicht?«
»Wenn ich es dir nicht ausreden kann, meinetwegen.«
Kopfschüttelnd zog sich Caren um, griff in den Kühlschrank und nahm eine Flasche Sekt heraus. Auf dem Weg zum Wagen versuchte sie noch einmal, die Freundin von dem »Irrsinn«, wie sie es nannte, abzubringen, doch Emma sagte nur:
»Ich möchte mit ihm schlafen. Verstehst du?«
»Aber deshalb musst du ihn doch nicht gleich heiraten! Wir leben schließlich nicht mehr im letzten Jahrhundert! Ich kenne keinen Mann, der da nein sagen würde.«
»Harry ist anders. Er hat nicht einmal versucht, mich zu verführen. Wahrscheinlich ist er furchtbar altmodisch und möchte seine Frau erst in der Hochzeitsnacht entjungfern. Ist das nicht aufregend?«
Caren war sichtlich sprachlos. Sie schüttelte den Kopf, öffnete die Flasche und seufzte resigniert: »Ich brauche etwas Flüssiges auf den Schock.« Sie nahm einen kräftigen Schluck und reichte Emma den Sekt.
Emma zögerte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie viel zu früh dran waren. Sie waren gerade auf dem höchsten Punkt der Baldwin Street angelangt. Emma hielt am Straßenrand an. »Ich glaube, ein kleiner Schluck kann wirklich nicht schaden«, bemerkte sie und griff nach der Flasche. Vor ihnen führte die Fahrbahn schwindelerregend steil nach unten. »Ich hoffe nur, das ist kein Zeichen!«, kicherte Emma, nachdem sie die Flasche halb geleert hatten. »Dass es von nun an bergab geht ...«
»Ach, was!«, entgegnete Caren leicht angetrunken. »Wenn man den Irrsinn beiseitelässt, dann ist das doch auch irgendwie sehr romantisch. Er muss ein Teufelskerl sein, wenn du dich für ihn sogar mit Kate überwirfst!«
Emma war augenblicklich ernüchtert. »Wir müssen!«, sagte sie, ließ den Wagen an und fuhr abwärts.
Fünf Minuten nach elf erreichten sie schweigend das Standesamt.
Vor der Tür stand Harry Holden mit bitterböser Miene, flankiert von zwei jungen Männern. »Schatz, du bist zu spät.« Er versuchte zu lächeln.
»Wir haben noch kurz auf den großen Tag angestoßen«, sagte Emma kleinlaut.
»Wer ist ›wir‹?«
»Darf ich vorstellen: meine Freundin und Trauzeugin Caren. Und das ist Harry!«
Caren streckte dem Bräutigam freundlich die Hand entgegen, die er jedoch ignorierte. »Hatten wir nicht abgemacht, dass ich die Trauzeugen mitbringe?«,
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