Der Fluch der Maorifrau
ich kann doch nicht zulassen, dass du bei einem anderen bleibst.« Das Jammern ging in ein leises Schluchzen über. »Du musst mitkommen. Du musst! Sonst ist es aus und vorbei. Du hast die Wahl: Du kommst jetzt mit, oder die Hochzeit wird abgesagt! Komm mit, Sophie, bitte!«
Jan bedeckte ihr Gesicht über und über mit Küssen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie war wie gelähmt. Verzweifelt fragte sie sich, wann er wohl endlich die Tür hinter sich zumachen und sie allein lassen würde. Wie von Ferne hörte sie ihn flehen und drohen: »Überleg es dir gut! Wenn du jetzt nicht mitkommst, ist es für immer aus! Du wirst es noch bitter bereuen!«
Sophie aber sagte nur »Adieu!«, bevor sie wieder in einen Zustand völliger Entrücktheit verfiel.
Sie spürte, wie sie am ganzen Körper zu frieren begann, als ihr Handy erneut klingelte. Es war John, der wissen wollte, ob alles in Ordnung sei und sie nicht morgen zusammen mit ihrem Verlobten zu seiner Silvesterparty draußen am Strand kommen wolle. Sophie lehnte das höflich ab. Ihr war jetzt nicht nach Gesellschaft zumute. Kurz angebunden verabschiedete sie sich von ihm und wünschte ihm einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Sophie verbrachte den halben Tag dösend im Zimmer. Mehrmals griff sie nach dem Manuskript, aber sie war nicht in der Stimmung, weiterzulesen. Sie musste erst einmal begreifen, dass ihre vormals sicher scheinende Zukunft nur noch ein Scherbenhaufen war. Jetzt war sie wirklich allein auf der Welt. Allein mit einer verfluchten Vergangenheit und einem Geheimnis, dem sie noch nicht einen Schritt näher gekommen war. Und das Allerschlimmste daran war, dass sie trotz ihrer Verzweiflung zugleich ein Gefühl der Erleichterung empfand. Sophie fragte sich, ob Emma wohl geahnt hatte, dass das Leben ihrer Tochter derart ins Wanken geraten würde. Vielleicht hat sie es sogar beabsichtigt, durchfuhr es sie eiskalt. Emma hat nie viel von Jan gehalten.
»Er ist ein fleißiger junger Mann«, hatte Emma einmal gesagt, »aber kannst du mit ihm fliegen?«
Sophie erinnerte sich noch genau, dass sie ihrer Mutter geantwortet hatte: »Ich suche keinen Mann zum Fliegen, sondern zum Leben!«
»Das eine sollte das andere niemals ausschließen, mein liebes Kind!«, hatte Emma erwidert.
Dunedin, im Februar 1889
Es gab keinen einzigen Tag, an dem Anna John nicht vermisste. Selbst in diesem Augenblick nicht, als sie an Klaras Bett saß und ihre friedlich schlafende Tochter betrachtete. Sanft strich Anna ihr über das blasse Gesicht. Seit Klara im dritten Monat ihrer Schwangerschaft Blutungen bekommen hatte, musste sie strenge Bettruhe einhalten, wenn sie ein gesundes Kind zur Welt bringen wollte. Ach, John, dachte Anna, es wäre unser gemeinsames Enkelkind!
Die Freude war groß gewesen, als sich endlich Nachwuchs angekündigt hatte. Fünf Jahre waren Timothy und Klara bereits verheiratet gewesen, und sie hatten den Wunsch auf ein Kind beinahe aufgegeben.
Anna hatte den Eindruck, als habe Timothy viel mehr unter der Kinderlosigkeit gelitten. Klara schien das weniger auszumachen. Sie ging voll darin auf, Timothy in der Kanzlei eine unverzichtbare Stütze zu sein. Sie hatte zwar selber nicht studieren dürfen, aber sie hatte sich aus eigener Energie so viel Fachwissen erarbeitet, dass sie Timothy eine gleichwertige Partnerin war. Timothys Onkel Albert hatte anfangs gegen »den Weiberrock in der Kanzlei« gewettert, aber Klara hatte sich durch den grimmigen alten Mann nicht von ihrem Plan abbringen lassen, es auch ohne Studium zu einer wahren Meisterin der Rechtswissenschaft zu bringen.
Seit sie tatenlos im Bett lag, wurde sie von Tag zu Tag unleidlicher. Deshalb war Anna froh, dass Klara im Schlaf ein wenig Ruhe fand, doch sie hatte sich zu früh gefreut. Ihre Tochter schlug die Augen auf und blickte sie unzufrieden an.
»Was kann ich für dich tun, mein Kind?«, fragte Anna.
»Warum hat er mir bloß keine Fälle aus der Kanzlei mitgebracht, wie ich es ihm aufgetragen hatte?«, beschwerte sie sich.
»Weil du dich schonen sollst«, entgegnete Anna streng.
Klara rollte mit den Augen. »Kannst du nicht wenigstens die Frauen einladen? Dann können wir an meinem Bett über die letzte Rede von Kate Sheppard sprechen.«
»Klara, sei vernünftig!«, erwiderte Anna sanft, obgleich sie insgeheim befürchtete, dass der Elan ihrer Tochter nicht so leicht zu bremsen war. Seit Anna und ihre Freundinnen sich der WCTU, der Woman's Christian Temperance Union ,
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