Der Fluch der Maorifrau
üppig.
Beschwingt schlug Anna den Weg zur George Street ein. Ihre Gedanken schweiften in die Zukunft. Sie stellte sich vor, wie sie in diesem Jahr endlich wieder Weihnachten feiern würden. So festlich, wie sie es früher stets getan hatten. Mit dem Kind würde es wieder echte Freude bereiten. Und dann Klaras sechsundzwanzigster Geburtstag. Auch den würden sie fröhlich begehen. Ein Kind, ja, dieses Kind würde alles wieder zum Leben erwecken. John würde es von ihnen erwarten, dass sie das Kind in Freude, statt im Schatten des Todes aufwachsen ließen. Anna wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und überlegte, ob sie die Straßenbahn nehmen sollte, aber den Gedanken verwarf sie gleich wieder. Dieses Monstrum, das seit ein paar Jahren zischend durch die Straßen glitt, war ihr ganz und gar nicht geheuer.
Am Octagon legte sie eine kleine Pause ein und betrachtete gedankenverloren die Statue, die erst zwei Jahre zuvor mit großem Tamtam eingeweiht worden war. Sie war zu Ehren des Dichters Robert Burns dort aufgestellt worden, dessen Gedichte und Lieder Anna sehr liebte. Ihr fiel sofort Auld lang syne ein, das schottische Neujahrslied, bei dem man der Toten des vergangenen Jahres gedachte und das John jeden ersten Januar voller Inbrunst geschmettert hatte. Anna fing ganz leise zu singen an. »Should auld acquaintance be forgot ...«
Sie stockte, als sie einen alten, zerlumpten Mann bemerkte, der am Fuß der Statue auf dem Boden kauerte. Mit leerem Blick starrte er ins Nichts. Nach einer Schrecksekunde wandte Anna sich hastig ab. Christian war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht war schwer vom Alkohol gezeichnet. Sie trat hastig einen Schritt zurück hinter die Statue. In ihr arbeitete es fieberhaft. Was sollte sie tun? Ihm ihre helfende Hand reichen und ihn mit nach Hause nehmen? Oder ihn seinem Elend überlassen? Sie schwankte, aber dann dachte sie an Klara und dass sie ihr das nicht zumuten dürfe. Wie hatte sie doch gesagt? Ich habe keinen Vater mehr! Annas Herz klopfte bis zum Halse. Aber was will ich?, fragte sie sich. Möchte ich mit ihm bis ans Ende meiner Tage unter einem Dach leben? Habe ich ihm wirklich alles verziehen? Vor ihrem inneren Auge sah sie nun in schnellem Wechsel seinen glänzenden Stiefel im Mondschein, Hines weißen Bauch, dann sich selber vor Angst schlotternd, die Treppe, die Tiefe, den Fall ...
Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief Anna nach Hause zurück. Sie bat Paula mit bebender Stimme, das Obst zu besorgen.
Die treue Haushälterin sah Anna prüfend an. »Was ist geschehen?«, fragte sie.
Anna holte tief Luft, bevor sie leise erwiderte. »Ich habe am Octagon meinen Mann gesehen. Wenn er es wirklich war, wird es nicht mehr lange dauern, bis der Alkohol ihn dahinrafft.«
»Wird er uns aufsuchen?«, fragte Paula zögernd.
»Ich hoffe nicht!« Anna schämte sich beinahe für ihre Herzlosigkeit.
In diesem Augenblick drang ein gellender Schrei aus dem Schlafzimmer. Anna hetzte die Treppen hinauf. Klara stand vor ihrem Bett und stierte entsetzt auf das Wasser, das in einem Schwall aus ihrem Körper floss.
»Es ist nicht schlimm!«, versuchte Anna ihre Tochter zu beruhigen, aber es nützte nichts.
Klara war völlig außer sich und schrie: »Was ist das? Was ist das?«
»Paula, hol die Hebamme. Es geht los!«, brüllte Anna nach unten und half ihrer Tochter, sich wieder hinzulegen. Klara wand sich vor Schmerz. Anna stand mit einem Mal das ganze Szenario von Marys Tod vor Augen. Ob dieses Kind auch verkehrt herum lag?, fragte sie sich voller Panik, während sie ihrer Tochter den Schweiß von der Stirn tupfte.
Endlich kam Agatha, die Tochter der alten Ginsbury, herbeigeeilt. An ihrem Blick, als sie Klara untersuchte, war unschwer zu erkennen, dass es Komplikationen gab.
»Liegt es verkehrt herum?«, raunte Anna ihr zu.
Die Hebamme nickte unmerklich, bevor sie fieberhaft versuchte, das Ungeborene im Mutterleib zu drehen.
Klara schrie vor Schmerz, setzte sich jedoch energisch auf und brüllte: »Retten Sie das Kind. Bitte!«
Agatha Ginsbury wurde bleich. Sie wusste, was Klara da von ihr verlangte. Einen Schnitt. Ein paarmal hatte sich die Hebamme bereits an dieser neuen Methode versucht mit dem Ergebnis, dass ihr dabei einige der jungen Frauen unter den Händen weggestorben waren.
»Tun Sie es!«, befahl Klara, bevor sie einen weiteren Schrei ausstieß, der Anna bis ins Mark erzittern ließ.
Anna wusste, was sie zu tun hatte. Heißes Wasser und Tücher
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