Der Fluch der Sphinx
überforderte. Während sie umherstreifte, dachte sie an die berühmte Deir-el-Bahri-Grabstätte, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von der Familie Rasul entdeckt und über einen Zeitraum von zehn Jahren ausgeplündert worden war; hier hatten die Familie Raman und später die Familie Abdulal allem Anschein nach das gleiche vor.
Erica betrat einen anderen Raum und blieb ruckartig stehen. Sie war in eine vergleichsweise kahle Kammer geraten. Sie sah vier aufeinander abgestimmte Truhen aus Ebenholz, Osiris-Nachbildungen. Die Wandmalereien entstammten dem Buch der Toten. Die gewölbte Decke war schwarz gestrichen und mit goldenen Sternen verziert. Voraus entdeckte Erica eine vermauerte Türöffnung, versiegelt mit dem alten Siegel der Totenstadt. Beiderseits der Türöffnung standen zwei alabasterne Sockel, deren Vorderseiten in Hochrelief gearbeitete Hieroglyphen besaßen. Erica verstand den Text auf den ersten Blick »Ewige Ruhe sei gegeben Sethos I. der unter Tutanchamun ruht.«
Nun war Erica auf Anhieb klar, daß das Verb »ruht« hieß, nicht »herrscht«, und die Präposition lautete »unter«, nicht »nach«. Zugleich begriff sie, daß sie sich am ursprünglichen Standort der beiden Sethos-Statuen befand. Dreitausend Jahre lang hatten sie einander gegenüber beiderseits der vermauerten Türöffnung Wache gehalten.
Plötzlich vergegenwärtigte sich Erica, daß sie vor der noch ungeöffneten Grabkammer des mächtigen Pharao Sethos I. stand. Sie hatte nicht bloß das Versteck eines Schatzes gefunden, sondern eine ganze Pharaonengruft. Die Sethos-Statuen waren die Wächter der Grabkammer gewesen, so wie die beiden mit Erdpech bestrichenen Statuen Tutanchamuns vor dessen Grabkammer. Sethos I. war nicht in jenem Grab bestattet worden, das sich im Dreieck mit Gräbern anderer Pharaonen des Neuen Reiches befand. Das war Nenephtas letzter Trick gewesen. Er hatte einen Ersatzleichnam in dem Grab bestatten lassen, von dem man im allgemeinen behauptete, es sei das Grab Sethos’ I. Aber in Wirklichkeit war Sethos I. in einer geheimen Gruft unter der Grabstätte Tutanchamuns beigesetzt worden. Nenephta hatte alle Beteiligten zufriedengestellt. Er hatte den Grabräubern eine Gruft zum Ausrauben geliefert und gleichzeitig dem Grab seines Pharao einen zuverlässigen Schutz, wie ihn kein anderes Pharaonengrab erhielt. Nenephta war davon ausgegangen, daß niemand, sollte nochmals jemand in Tutanchamuns Grab eindringen, auf den Gedanken käme, es könne als Tarnung für einen viel gewaltigeren Schatz darunter dienen. Er hatte »die Wege der Habgierigen und Übeltäter« verstanden.
Erica schüttelte die Lampe, um zu prüfen, wieviel Öl noch darin war, und entschied, lieber den Rückzug anzutreten. Widerwillig machte sie kehrt und durchquerte die Grabanlage in der Richtung, aus der sie zuvor gekommen war. Sie konnte nur noch staunen über Nenephtas Plan. Er war tatsächlich sehr klug gewesen. Aber er war auch überheblich. Das Hinterlassen des Papyrus in Tutanchamuns Grab war der schwächste Punkt seines ausgeklügelten Plans gewesen. Der Papyrus hatte dem nicht minder gerissenen Raman den Hinweis gegeben, mit dessen Hilfe er das Geheimnis entschleiern konnte. Erica fragte sich, ob der Araber, so wie sie, die Große Pyramide besichtigt und dabei festgestellt hatte, daß die Kammern übereinander gebaut worden waren, oder ob er einmal unter einem der Fürstengräber ein anderes Grab gefunden hatte.
Während des Rückzuges durch den engen Gang dachte Erica über die Großartigkeit ihrer Entdeckung nach, aber auch daran, was alles auf dem Spiel stand. Kein Wunder, daß man sogar vor Mord nicht zurückschreckte. Bei dieser Überlegung blieb Erica wie angewurzelt stehen. Sie fragte sich, wie viele Menschen deswegen schon ihr Leben lassen mußten. Das Geheimnis des Grabes war über fünfzig Jahre lang bewahrt worden. Der junge Mann von der Yale University … Auf einmal sah Erica Zusammenhänge mit dem sogenannten »Fluch der Pharaonen«. Möglicherweise waren seine angeblichen Opfer in Wahrheit ermordet worden, um das Geheimnis zu hüten? Vielleicht sogar Lord Carnarvon selbst?
Als sie die oberste Kammer erreichte, blieb Erica bei den Schmuckstücken der elfenbeinernen Truhe stehen. Sie hatte es sorgsam vermieden, irgend etwas anzufassen, um nicht die archäologischen Aspekte der Gruft zu beeinträchtigen, aber etwas anzurühren, das schon jemand angetastet hatte, bereitete ihr kein schlechtes Gewissen. Sie hob einen
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