Der Fluch der Sphinx
glaube Ihnen ja«, betonte Yvon. Seine Hand ruhte noch auf Ericas Schulter, und die Berührung beruhigte sie sonderbarerweise.
»Aber warum haben sie die Leiche auch weggeschleppt?«
»Was meinen Sie damit, ›auch‹?«
»Eine Statue ist mitgenommen worden, die hier stand«, sagte Erica und zeigte auf die Stelle. »Es handelte sich um eine sensationelle Statue eines alten ägyptischen Pharao …«
»Sethos’ I.«, unterbrach Yvon. »Der verrückte Alte hatte die Sethos-Statue hier im Laden!« Ungläubig verdrehte Yvon die Augen himmelwärts.
»Sie wußten von der Statue?« fragte Erica.
»Allerdings. Ich bin sogar hergekommen, um über eben diese Statue mit Hamdi zu reden. Wie lange ist es jetzt her, daß sich das alles hier abgespielt hat?«
»Das weiß ich nicht genau. Fünfzehn, zwanzig Minuten. Als Sie eintraten, dachte ich, die Mörder kämen zurück.«
»Merde«, sagte Yvon, trat von Erica zurück und begann, durchs Zimmer zu schreiten. Er zog seine beige Jacke aus und warf sie über ein Kissen. »So dicht davor.« Er blieb stehen und wandte sich an Erica. »Haben Sie die Statue selbst gesehen?«
»Ja, habe ich. Ein unglaublich schönes Stück, bei weitem das bedeutendste Kunstwerk dieser Art, das ich je zu sehen bekommen habe. Nicht einmal die herrlichsten Schätze Tutanchamuns lassen sich damit vergleichen. Sie zeigte ganz deutlich das Niveau, welches die Handwerkskunst des Neuen Reiches während der neunzehnten Dynastie erreichte.«
»Neunzehnte Dynastie? Woher wissen denn Sie das?«
»Ich bin Ägyptologin«, antwortete Erica und gewann allmählich ihre Fassung zurück.
»Ägyptologin? Sie sehen nicht aus wie eine Ägyptologin.«
»Und wie sollte eine Ägyptologin aussehen?« entgegnete Erica interessiert.
»Na schön, sagen wir mal, ich hätte in Ihnen keine vermutet«, sagte Yvon. »Hat die Tatsache, daß SieÄgyptologin sind, Hamdi dazu bewogen, Ihnen das Standbild zu zeigen?«
»Das nehme ich an.«
»Trotzdem idiotisch von ihm. Eine Riesendummheit. Ich kann nicht begreifen, warum er leichtsinnig ein solches Risiko eingegangen ist. Haben Sie eine Vorstellung vom Wert dieser Statue?« Yvons Frage klang fast erbittert.
»Sie ist unermeßlich wertvoll«, erwiderte Erica. »Das ist ein Grund mehr, um schnellstens die Polizei aufzusuchen. Als Ägyptologin ist mir zwar bekannt, daß es für Antiquitäten einen Schwarzmarkt gibt, aber ich hatte keine Ahnung, daß man auch mit derart wertvollen Stücken handelt. Es muß etwas geschehen!«
»Es muß etwas geschehen!« Yvon lachte spöttisch. »Amerikanische Selbstgerechtigkeit! Amerika ist der größte Markt für Antiquitäten. Ließen die Gegenstände sich nicht verkaufen, gäbe es keinen Schwarzmarkt. Letztendlich sind die Käufer daran schuld.«
»Amerikanische Selbstgerechtigkeit?« rief Erica entrüstet. »Und was ist mit den Franzosen? Wie können Sie so etwas sagen, obwohl jeder weiß, daß der Louvre von unschätzbaren Kostbarkeiten regelrecht überquillt, hauptsächlich zusammengeraubt, zum Beispiel der Zodiakus aus dem Tempel von Dendera? Tausende von Kilometern legen die Menschen zurück, die nach Ägypten reisen, um dann zum Schluß vor einem Gipsabguß zu stehen.«
»Es war sicherer für den Zodiakstein, ihn zu entfernen«, sagte Yvon.
»Ach was, Yvon. Eigentlich müßten Ihnen bessere Ausreden einfallen. In der Vergangenheit mag es sich ja so verhalten haben, aber nicht heute.« Erica vermochte kaum zu glauben, daß sie sich schon soweit erholt hatte,um sich in eine sinnlose Meinungsverschiedenheit verwickeln zu lassen. Außerdem fiel ihr auf, daß Yvon ungemein attraktiv war und ihr daran lag, ihm eine spontane Reaktion zu entlocken.
»Nun gut«, meinte er kühl wie zuvor, »im Prinzip stimmen wir überein. Der Schwarzmarkt muß unter Kontrolle gebracht werden. Aber bezüglich der Methoden sind wir unterschiedlicher Auffassung. Ich zum Beispiel glaube nicht, daß wir unverzüglich zur Polizei rennen sollten.« Erica war entsetzt.
»Sie sind also gegenteiliger Meinung?«
»Ich weiß nicht recht«, stammelte Erica und war enttäuscht, wie leicht man sie durchschauen konnte.
»Ich verstehe Ihre Betroffenheit. Lassen Sie sich aber von mir erklären, wo Sie sich befinden. Ich versuche nicht, Sie zu bevormunden, ich bin bloß realistisch. Sie sind hier in Kairo, nicht in New York, Paris oder bloß Rom. Ich sage das, weil Italien im Vergleich zu Ägypten hervorragend verwaltet wird, und das will etwas heißen. Kairo leidet unter
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