Der Fluch der Sphinx
Sie fühlte sich durch die vorangegangenen Erlebnisse wie betäubt. Sie wußte, daß es unzulässig war, fremdes Eigentum zu durchsuchen, aber sie erhob keinen Einspruch. Statt dessen beobachtete sie gedankenverloren die zwei Männer. Sie waren inzwischen mit den Schränken fertig und nahmen jetzt der Reihe nach die Teppiche ab, die an den Wänden hingen.
Bei ihrer Tätigkeit offenbarten sich die unterschiedlichen Charaktere der beiden Männer. Sie waren nicht nur von verschiedenartigem Aussehen, sondern hatten auch ihre eigene Art, sich zu bewegen und zu arbeiten. Raoul packte die Dinge ohne Umschweife und direkt an, verließ sich manchmal auf die pure Kraft. Yvon ging umsichtig und sorgsam vor. Raoul befand sich unaufhörlich in Bewegung, bückte sich häufig, den Kopf zwischen den kräftigen Schultern leicht eingezogen. Yvon blieb aufrecht und betrachtete alles distanziert. Er hatte sich die Ärmel hochgekrempelt und sehnige Unterarme entblößt, die seine schmalen, wie gemeißelten Hände in ihrer Feinheit noch betonten. Und da erkannte Erica urplötzlich, was so anders war an Yvon. Er zeichnete sich durch das zurückhaltende, verwöhnte Gebaren eines Aristokraten des 19. Jahrhunderts aus. Ein Hauch vornehmen Dünkels umgab ihn wie ein Heiligenschein.
Erica empfand es auf einmal als unerträglich, noch länger untätig herumzusitzen, während ihr Puls noch aufgeregt klopfte. Sie stand auf und ging über die dickenTeppiche. Sie hatte das Bedürfnis nach frischer Luft, mochte aber den Kundenraum nicht betreten, obwohl der Leichnam verschwunden war, wie ihr Yvon versichert hatte. Schließlich zog sie den Vorhang doch zur Seite.
Erica schrie auf. Nur einen halben Meter von ihr entfernt wandte sich ihr ein Gesicht ruckartig zu, als sie den Vorhang geöffnet hatte. Die Töpfe zerschellten krachend auf dem Fußboden, als die Gestalt im Laden die zusammengerafften Töpferwaren fallen ließ, offenbar ebenso erschrocken wie Erica.
Raoul reagierte augenblicklich und drängte sich an Erica vorbei in den Verkaufsraum. Yvon folgte ihm. Der Dieb stolperte über die Scherben dem Ausgang zu, aber Raoul war flink wie eine Katze und brachte den Eindringling mit einem kurzen Karateschlag zwischen die Schulterblätter zu Fall. Er stürzte und wälzte sich auf den Rücken, ein Junge von ungefähr zwölf Jahren.
Yvon schenkte ihm nur einen Blick und kehrte dann zurück zu Erica.
»Sind Sie in Ordnung?« erkundigte er sich leise.
Erica schüttelte den Kopf. »Ich bin derartige Abenteuer nicht gewöhnt.« Sie klammerte sich noch an den Vorhang, den Kopf gesenkt.
»Schauen Sie sich den Jungen mal an«, bat Yvon. »Ich möchte sichergehen, daß er nicht zu den dreien gehört, die Sie hier gesehen haben.« Er legte seinen Arm um sie, aber sie entwand sich behutsam seiner Umarmung.
»Mir geht’s gut«, erklärte sie verspätet. Ihr war klargeworden, daß ihre Reaktion bei diesem zweiten Schreck so übertrieben ausgefallen war, weil sie ihre Furcht vorher so unterdrückt hatte.
Sie atmete einmal tief durch, betrat den Kundenraum und warf einen Blick auf das niedergeduckte Kind.
»Nein«, sagte sie bloß.
Yvon sagte in scharfem Ton etwas in arabischer Sprache zu dem Jungen, der sich daraufhin aufrappelte und wie der Blitz hinausrannte, so daß die Perlenschnüre hinter ihm wild tanzten. »Die Armut hierzulande verleitet manche Menschen dazu, sich wie Aasgeier zu benehmen. Irgendwie riechen sie’s, wenn irgendwo was nicht stimmt.«
»Ich möchte gehen«, sagte Erica so ruhig wie möglich. »Ich weiß nicht genau, wohin ich jetzt will, aber ich will weg von hier. Und ich bin immer noch der Ansicht, wir sollten die Polizei verständigen.«
Yvon hob den Arm und legte die Hand auf Ericas Schulter. »Die Polizei kann ja verständigt werden«, sagte er in väterlichem Ton, »aber ohne Sie in die ganze Sache zu verwickeln. Die Entscheidung liegt selbstverständlich bei Ihnen, aber glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ägyptische Gefängnisse können sich mit denen der Türkei messen.«
Erica sah in Yvons Augen, die sie fest anschauten, dann senkte sie ihren Blick auf ihre noch zitternden Hände. Angesichts der Armut und überwältigenden Unordnung, die sie bisher schon in Kairo gesehen hatte, klangen Yvons Ratschläge sehr vernünftig. »Ich möchte zurück in mein Hotel.«
»Verständlich«, sagte Yvon. »Aber bitte erlauben Sie uns, Sie dorthin zu begleiten, Erica. Lassen Sie mich nur noch die Briefe holen, die wir gefunden
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