Der Fluch der Sphinx
Doch anscheinend hatte Yvon es nicht bemerkt. Statt dessen streckte er einen Arm aus und umfaßte sanft ihr Handgelenk.
»Das freut mich sehr«, sagte er herzlich. »Ich muß mich nun leider verabschieden. Ich wohne im Meridien Hotel, Suite 800. Das Hotel steht auf der Insel Roda.« Yvon schwieg, ließ jedoch Ericas Hand nicht los. »Ich würde mich freuen, wenn Sie heute abend mit mir essen würden. Der heutige Tag muß Ihnen einen fürchterlichen Eindruck von Kairo vermittelt haben, und ich möchte Ihnen gern die schönen Seiten der Stadt zeigen.«
Dieses unerwartete Angebot schmeichelte Erica. Yvon war ungewöhnlich charmant und konnte wahrscheinlich mit tausend anderen Frauen zu Abend essen. Sein Interesse galt zwar der Statue, aber Erica fühlte sich doch verwirrt.
»Danke, Yvon, aber ich bin vollkommen erschöpft. Ich leide noch an dem Zeitunterschied durch den Flug und habe schon gestern nicht allzu gut geschlafen. Vielleicht an einem anderen Abend.«
»Wir könnten früh essen. Ich würde Sie spätestens um zehn wieder hier absetzen. Ich glaube, nach dem heutigen Erlebnis sollten Sie nicht allein im Hotelzimmer herumhocken.«
Erica schaute auf ihre Armbanduhr und stellte fest, daß es erst kurz vor sechs Uhr war; sie empfand zehn Uhr als nicht zu spät, und etwas essen mußte sie sowieso.
»Wenn’s Ihnen wirklich nichts ausmacht, mich um zehn wieder hier abzuliefern, dann esse ich gerne mit Ihnen.«
Yvon drückte für einen Moment ihr Handgelenk etwas fester und gab es dann frei. »Entendu«, sagte er und winkte, um zu zahlen.
Boston, 11 Uhr
Richard Harvey blickte auf die korpulenten Umrisse von Henrietta Olsons Unterleib hinab. Die beiden Laken, die die obere und die untere Körperhälfte bedeckten, waren auseinandergeschoben worden, um den Bereich der Gallenblase freizulegen. Der Rest von Henriettas Körper blieb zwecks Bewahrung ihrer Würde zugedeckt.
»So, Mrs. Olson«, sagte Richard, »nun zeigen Sie mir bitte, wo Sie den Schmerz gespürt haben.«
Eine Hand tastete sich aus den Laken hervor. Henrietta deutete mit dem Zeigefinger gleich unter der rechten Hälfte des Brustkorbs auf ihren Leib.
»Und hier hinten auch, Doktor«, sagte Henrietta, wälzte sich auf die rechte Seite und wies mit dem Finger mitten auf ihren Rücken. »Genau hier«, bekräftigte Henrietta und bohrte ihren Finger in Richards Nieren.
Richard verdrehte die Augen, aber so, daß nur Nancy Jacobs, seine Praxishelferin, es sehen konnte, aber diese schüttelte den Kopf, weil sie das Gefühl hatte, daß er heute mit seinen Patienten zu schroff umsprang.
Richard hob den Blick zur Uhr. Er wußte, daß bis zum Mittagessen noch drei Patienten auf ihn warteten. Während sich seine nunmehr dreijährigen internistischen Erfahrungen bemerkenswert gut bewährten und er seinen Beruf auch schätzte, belastete doch an manchen Tagen die Arbeit in ungewöhnlichem Maße seine Nerven. Neunzig Prozent aller Fälle, die er zu behandeln hatte, hatten ihren Ursprung im Rauchen und in Fettleibigkeit, und das war ein wenig dürftig vom hohen intellektuellen Anspruch des Ärztestandes. Und jetzt, zu diesem Problem, kam noch die Sache mit Erica. Sie machte es ihm fast unmöglich, sich auf Angelegenheiten wie Henriettas Gallenblase zu konzentrieren.
Von der Tür ertönte ein hastiges Pochen, und Sally Marinski, die in der Anmeldung saß, schob den Kopf herein. »Doktor, Ihr Gespräch ist da.« Richards Miene hellte sich auf. Er hatte Sally gebeten, ihn mit Janice Baron, Ericas Mutter, zu verbinden.
»Entschuldigen Sie mich, Mrs. Olson«, sagte Richard. »Ich muß unbedingt ans Telefon. Ich bin aber gleich wieder da.« Er gab Nancy ein Zeichen, daß sie bei der Patientin bleiben solle.
Er schloß die Tür seines Sprechzimmers hinter sich und nahm den Hörer vom Telefon, drückte den Knopf.
»Hallo, Janice.«
»Richard, Erica hat noch nicht geschrieben.«
»Danke, ich weiß, daß sie noch nicht geschrieben hat. Der Grund meines Anrufs ist ein anderer: Ich glaube wirklich, ich werde verrückt. Sag mir, was ich nach deiner Ansicht tun soll.«
»Ich bezweifle, daß dir gegenwärtig viele Möglichkeiten zur Auswahl stehen, Richard. Du wirst eben abwarten müssen, bis Erica zurückkommt.«
»Was glaubst du, warum sie überhaupt gereist ist?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich konnte diesen Ägyptenfimmel noch nie begreifen, schon seitdem es für sie feststand, daß sie sich hauptberuflich damit abgeben wolle. Wäre ihr Vater nicht
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