Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
tief in der Wolle gefärbte Rohling einen ungeheuer höflichen Brief geschrieben. Darin lobt er dich über alles, Adelia, und er sagt, sollten wir je England besuchen wollen, wäre es ihm eine Freude, uns seinen Schutz zu gewähren.«
»Das hat Henry getan?« Adelia konnte nur staunen.
Gershom schnaubte. »Hin und wieder verirrt sich einer seiner noblen Kuriere auf dem Weg nach Palermo zu uns und bringt uns einen Brief, in dem steht, wie es dir geht. Deine Mutter hält das für Höflichkeit. Ich sage, es ist das Mindeste, was er uns dafür schuldet, uns unsere Tochter genommen zu haben und für sich zu behalten. Seine Einladung ist eine Luftblase, eine Beruhigungspille, um uns bei Laune zu halten.«
»Oh nein«, sagte Adelia, immer noch überrascht, aber mit Überzeugung. »Nein, das ist es sicher nicht. Wenn er euch einen Platz in England angeboten hat, will er euch auch dort haben.«
Der Plantagenet tat nichts aus Feinfühligkeit, und sie fragte sich, was für Hintergedanken er dabei im Kopf haben mochte. Sie hatte nicht gedacht, dass er von der Existenz ihrer Eltern überhaupt Notiz nahm. Aber er war ein umsichtiger Monarch mit einem Netzwerk an Zuträgern wie kein anderer, und zwei der begabtesten Ärzte der Welt bei sich zu haben, könnte zweifellos von beträchtlichem Nutzen für ihn und sein Reich sein.
Was sie erstaunte war, dass die beiden es tatsächlich in Erwägung zu ziehen schienen, seiner Einladung zu folgen. Sie hatte gedacht, dass sie dafür viel zu tief im Fels des südlichen Apennin verwurzelt wären.
Adelia betrachtete ihre Mutter und sah etwas, das ihr im Taumel des Wiedersehensglücks entgangen war, eine Art Vertiefung im Wangenknochen der Frau.
Sie beugte sich vor und strich sanft darüber. »Wie ist das passiert? Hat Vater dich wieder geschlagen?«
»Das hätte ich fürwahr tun sollen«, sagte Gershom bitter. »Wenn ein sturer, widerspenstiger Holzblock von einem Waib es je verdient hat, etwas um die Ohren zu bekommen, dann diese Frau hier. Hatte ich ihr nicht gesagt, ihre Eltern keinesfalls ohne den Schutz von Halim besuchen zu gehen? Hat sie auf mich gehört? Mansur, mein alter Freund, wo warst du? Du hättest sie in die Flucht geschlagen.« Seine Miene veränderte sich. »Sie haben sie mit Steinen beworfen.«
»Mit Steinen beworfen … Wer?«
»Es war ein Mönch«, sagte Lucia ohne große Gefühlsregung. »In der Via Mercanti. Ich glaube, es war ein Bruder aus dem Kloster San Matteo. Ein völlig unfähiger Werfer, alle anderen Steine haben mich verfehlt.«
»Lieber Gott, aber warum hat er das getan?«
»Sicher, weil ich mit dem Juden verheiratet bin, den du so gerne deinen Vater nennst.«
»Es stimmt«, sagte Gershom. »Am nächsten Tag kam der freundliche Zeitgenosse mit Verstärkung und hat uns die Fensterläden zerschlagen, was der Steinigung deiner Mutter natürlich grundsätzlich vorzuziehen war, sich ökonomisch aber nicht so gut darstellte. Holz ist teuer. Wir haben bei Bischof Jerome Beschwerde eingereicht, aber es ist nichts passiert. Es hat keine Untersuchung gegeben.«
»Warum?«
»Mein Kind, deine Eltern sind eine Beleidigung Gottes. Ein Jude und eine Katholikin, die zusammenleben? Unerträglich. Das schreckt den ganzen Himmel auf.« Gershom seufzte. »Selbst deine Tante Felicia hat es für notwendig befunden, uns zu verlassen und in den Konvent von San Giorgio zu ziehen.«
Felicia? Das war die Frau, die den Haushalt in Salerno geführt hatte, damit ihre jüngere, medizinisch so begabte Schwester sich auf ihren Beruf konzentrieren konnte.
»Nun ja«, sagte Lucia. »Sie wird alt. Vielleicht ist ihr alles zu viel geworden.«
»Nein«, sagte Gershom. »Sie hatte Angst.« Er griff nach der Hand seiner Tochter. »Die Dinge ändern sich, Kleines. Simon, der Schreiner, und seine arabische Frau sind davongejagt worden, genau wie unser ausgezeichneter griechischer Apotheker. Du erinnerst dich doch an ihn? Hypatos, der sich darauf eingelassen hat, ein katholisches Mädchen zu heiraten?«
»Aber das hat doch niemanden gestört? Gut, gestört schon, aber sie haben es geduldet …«
»Es stimmt, bis vor ein paar Jahren hat sich die römische Kirche nicht weiter um gemischte Ehen gekümmert. Aber das ist nicht mehr so. König William wird gedrängt, seine ungläubigen Berater durch Männer lateinischen Glaubens zu ersetzen. Selbst Jibril muss öffentlich so tun, als wäre er zum Christentum konvertiert. Er hat es mir bei unserer Ankunft selbst erzählt.«
»Ich wusste
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