Der Fluch Des Bierzauberers
Die Angreifer vermuteten schwere Schäden an der Stadtmauer und rückten von zwei Seiten gegen die Stadt an. Alle Bürger kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Bürgerfrauen, Kinder und Mägde schleppten Holz, Steine und Mist, um Löcher in den Mauern auszubessern. Auch kochendes Wasser und Pech wurden herumgetragen, um sie den Feinden über die Häupter zu gießen. Das meiste Wasser kam aus Flügels Brauerei. Die beiden Brauer hatten rechtzeitig alle Sudkessel beheizt, um möglichst viel heißes Wasser vorrätig zu haben.
»Sogar heiße Bierwürze würde ich den Schweinehunden aufs Haupt gießen, wenn ich nichts anderes hätte«, erklärte Knoll auf Brauerart den Grad seiner Verzweiflung. »Lieber durstig und frei, als mit vollem Sudkessel erobert!«
Ein Vorstoß durch eine eingefallene Mauer wurde gerade noch rechtzeitig zurückgedrängt. Die Schmerzensschreie der verbrühten Soldaten drangen bis in die Stadt und nährten die Zuversicht der Belagerten. Schließlich hörten die Schweden auf zu kämpfen und verlegten sich auf eine Blockade der Stadt. Eine Bitte um zweistündige Waffenruhe beantworteten sie mit einem Lachen. »Waffenruhe wird erst gegeben, wenn alle Bitburger verhungert sind.«
Oetz, Knoll und allen anderen Bürgern verging das Lachen ob dieser Prognose. »Wie lange werden wir einer Belagerung standhalten können?«, wurde Oetz immer wieder von besorgten Bitburgern gefragt. Rasch wurden die Lebensmittel gesichtet, Lebendvieh zusammengetrieben und alle Kornvorräte unter Aufsicht der Schöffen gestellt. Da der Nachschub an Eicheln aus dem Bedhard, dem Bitburger Stadtwald, zur Fütterung der Schweine ausblieb, mussten diese wohl bald geschlachtet werden. »Drei Wochen, wenn alles gut geht, vielleicht vier«, lautete das wenig ermutigende Resultat der Sichtung.
»Bis dahin sind unsere Belagerer vielleicht selbst verhungert«, sprachen sich einige Bitburger Mut zu.
Nach zwei Wochen war die Stimmung auf dem Tiefpunkt, innerhalb wie außerhalb der Stadt. Auch im Umland gab es wenig zu holen, es hatte sich zudem herumgesprochen, dass das belagernde Heer nicht im Dienst des Kaisers stand. Daher gab es Widerstand allerortens, kein Dorf, keine noch so kleine Stadt wollte noch Vorräte herausgeben und so hatte mehr als einmal ein Schwedentrupp erfolglos den peinlichen Rückzug antreten müssen. Der Zorn von Christian Tonning stieg ins Unermessliche. Er schien die Belagerung noch lange aufrecht halten zu wollen.
Weitere bange, weitgehend ereignislose Tage vergingen. Innerhalb der Stadtmauern würde es nicht mehr lange dauern, bis mit den ersten Hungertoten zu rechnen war. Jeden Morgen tagten die Schöffen und beratschlagten, wie die Stadt aus dieser Situation herauskommen könnte. Meist ging man ohne greifbare Ergebnisse auseinander. In der dritten Woche gab es kein Schlachtvieh mehr. Die letzten Ziegen waren geschlachtet worden, sodass der städtische Ziegenhirte, der ›Custos caprarum‹, arbeitslos geworden war. Lediglich ein paar Kühe und Hühner lebten noch, weil man Milch und Eier benötigte. Die sauber ausgeschabten Felle aller geschlachteten Tiere wurden für die Zeit der Belagerung in einer schattigen Ecke des Oetz’schen Hofes gesammelt, da sich die Gerberei vor dem nördlichen, dem Kölner Stadttor und somit derzeit in den Händen der Belagerer befand.
Wieder saß der Rat bei Oetz und diskutierte. Draußen im Hof, dort, wo mit der Demütigung des Leutnants das ganze Unglück der Stadt begonnen hatte, spielten die Kinder. Sie litten am wenigsten unter der Situation. Alle waren im Krieg geboren worden und kannten nichts anderes als Mangel und Verzicht. Und die Mütter sorgten dafür, dass die Kinder den geringsten Hunger leiden mussten. Für Johann Flügel, Ulrich Knoll und die anderen war es deshalb nicht mehr als ein großes Abenteuer. An diesem Morgen spielten sie ein neues Spiel. Was immer es war, es ging den Schöffen erheblich zu laut zu, und störte sie bei ihren wichtigen Beratungen. Oetz ging hinaus auf den großen Balkon seines eindrucksvollen Hauses, um die Kinder zur Ordnung zu rufen. Er sah hinunter und staunte, als er einige tanzende Ziegen erblickte. Erst bei näherem Hinsehen erkannte er, dass sich die Jungen die Felle der geschlachteten Tiere übergestreift hatten und damit ein Spiel veranstalteten.
»Ich bin die Obergeiß, wenn du hungrig bist, so fang mich doch«, rief eine Ziege, deren helle Jungenstimme der Stadtrichter Flügels Sohn Johann
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