Der Fluch des Florentiners
Sie lag noch immer in diesem medizinisch schwer einzuschätzenden Tod-Leben-Wach-Tiefschlafzustand. Sie lebte, aber sie war tot.
Georg von Hohenstein betrachtete die Anlage des Palais Rhoul. Sein Versteck lag auch unter logistischen Kriterien optimal. Zum Zentrum von Marrakesch waren es kaum mehr als zwanzig Minuten. Der Flughafen war in dreißig Minuten zu erreichen. Und das Versteck der Araber lag, so wie das Palais Rhoul, in der Palmeraie – also ganz in seiner Nähe! Alles war absolut perfekt!
Dass er sich so sonderbar zufrieden und wohl fühlte, hatte aber auch andere Gründe. Es war das Bewusstsein, seit langer Zeit wieder einmal etwas zu tun, das nicht mit Geld, mit dem Mehren des Vermögens, der Verwaltung der Güter und Wertpapiere und mit dem Gieren nach mehr zu tun hatte. Er war sich an diesem Abend im Palais Rhoul in der Palmeraie von Marrakesch absolut sicher, dass sein Plan gelingen würde. Sein Opfer hatte er bereits lokalisiert. Es wohnte im Palmeraie Golf Palace, einer noblen Hotelanlage.
Für die Araber war dieser Komplex ein ideales Versteck, das war ihm bei der ersten Besichtigung klar geworden. Das Gelände war riesig, unüberschaubar und von vielen Tagesgästen frequentiert. Niemand achtete hier auf unbekannte Gesichter.
Was für die Araber von Vorteil war, das erwies sich jetzt auch für ihn als idealer Ort, seinen Plan zu realisieren. Das Palais Rhoul lag nur wenige Minuten entfernt. Eine Golfausrüstung hatte er sich bereits gekauft. Die Waffe passte ohne Probleme in den Golfbag – samt Golfschlägern. Nahe genug rankommen würde er auch. Er hatte sich als vermeintlicher Golfspieler bereits für zwei Wochen ein Zimmer auf der anderen Seite des Pools, direkt gegenüber ihren Wohnungen gemietet. Jetzt galt es, die Aktivitäten der Araber zu beobachten, ihren Tagesablauf auszukundschaften, die Fährten zu verfolgen, zu warten, bis das Wild müde war – und ein gutes Ziel abgeben würde. Seine Rache würde lautlos sein.
14. Kapitel
U
m neun Uhr morgens war der Anruf ihres Verlagsfreundes Peter gekommen. Das Gespräch hatte nicht dazu beigetragen, dass Marie-Claire de Vries ruhiger wurde. Seit ihrer Rückkehr vom Wörthersee fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Geschehnisse dort setzten ihr sehr zu. Millionen Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum nur hatte Gregor sie so rüde behandelt? Hatte er das, was er gesagt hatte, wirklich so gemeint? Oder war er menschlich von ihr so enttäuscht, weil sie in seinen Unterlagen herumgeschnüffelt hatte, dass er ihr nur wehtun wollte?
Marie-Claire war völlig aufgelöst. Sie hatte das Gefühl, durch ihr Leben zu taumeln. Sie reagierte auf Impulse von außen, aber sie agierte nicht. Und das schadete vor allem ihrer Arbeit. Sie arbeitete nicht so, wie Francis Roundell es von ihr erwartete. Es war ihr noch nie während ihres gesamten Berufslebens passiert, dass sich private Befindlichkeiten auf ihre beruflichen Pflichten ausgewirkt hatten. Die Konflikte zeichneten sich bereits so drastisch ab, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie Francis all das erklären sollte. Francis! Natürlich hatt e e r sich wieder gemeldet, hatte telefonisch nach dem Stand der Dinge gefragt und angedeutet, dass entweder er nach Wien oder sie nach London kommen müsse. Glücklicherweise konnte sie ihn wegen des anstehenden Gesprächs mit Peter etwas vertrösten. Heute Abend jedoch musste sie ihn anrufen. Weder wusste sie, welche Fakten – und nur um die ging es – sie ihm mitteilen sollte, noch hatte sie einen blassen Schimmer, was sie ihm überhaupt sagen wollte und konnte! An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich nichts geändert. Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Ihr spukten nur noch Bilder und Fakten von Vlies-Rittern, absurde Philosophien einer christlich-fundamentalistischen Organisation, indische Mythen und aberwitzige Theorien über den Florentiner durch den Kopf. Nachts hatte sie eigentümliche erotische Träume.
War das Zufall? Gab es solche Zufälle? Gab es hinter dem Geflecht der kleinen Geschehnisse eine Bestimmung, die vorgab, was geschah – geschehen würde? Warum, und diese Frage beschäftigte sie seit dem Anruf von Peter am frühen Morgen, warum kam dieser dubiose Araber ausgerechnet jetzt nach Wien? Wieso hatte ihre Freundin Chrissie ausgerechnet heute Vormittag angerufen und ihr mitgeteilt, dass Gregor kein Vlies-Ritter – aber oberster Bandinhaber dieser ultra-katholischen Bruderschaft war? Was hatte Chrissie gesagt? »
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