Der Fluch des Khan
waren fast ein Drittel aller mongolischen Männer Lamas, die in einem der zahlreichen schlichten Klöster, die übers ganze Land verstreut waren, ein asketisches Dasein führten. Unter kommunistischer Herrschaft verschwand der Buddhismus nahezu völlig aus dem Alltagsleben. Eine ganze Generation von Mongolen wird also erst jetzt wieder im Glauben ihrer Vorfahren unterwiesen.
Pitt und Giordino konnten sich dem Zauber dieses Tempels nicht entziehen, der spirituellen Kraft der Zeremonie, wie sie seit Hunderten von Jahren nahezu unverändert von edlen Lamas vollzogen wurde. Der exotische Duft brennender Räucherstäbchen betörte sie, aber auch das warme Kerzenlicht, dessen flackernder Schein sich an der rot gestrichenen Decke spiegelte und auf die Purpurbanner fiel, die an den Wänden hingen. Die matt schimmernden Buddhastatuen in verschiedenen Inkarnationen, die in den Wandnischen und am Altar standen, und die sehnsuchtsvollen Töne, die aus dem Mund der Mönche drangen, trugen ein Übriges dazu bei.
Gemeinsam stimmten die Mönche eine Zeile aus den Gebetsbüchern an, die vor ihnen lagen, und wiederholten sie mehrmals.
Allmählich wurde das Mantra lauter, der Gesang kraftvoller, bis ein älterer Lama, der eine dicke Brille trug, plötzlich auf eine Ziegenfelltrommel schlug. Die anderen Mönche stimmten mit kleinen Messingglocken ein oder bliesen in große weiße Muschelhörner, bis die Wände des Tempels wackelten. Dann verklang das Crescendo wie durch ein unsichtbares Handzeichen, und Stille kehrte ein, worauf die Mönche einen Augenblick lang meditierten und sich dann von den Bänken erhoben.
Der Lama mit der dicken Brille stellte seine Trommel ab und trat zu Pitt und Giordino. Er war fast fünfundachtzig Jahre alt, bewegte sich aber so kraftvoll und geschmeidig wie ein junger Mann. Die tiefbraunen Augen kündeten von Güte und Klugheit.
»Die Amerikaner, die durch die Wüste wandern«, sagte er mit starkem Akzent. »Ich bin Santanai. Willkommen in unserem Tempel. Wir haben in unserer heutigen Andacht auch für euer Wohlbefinden gebetet.«
»Entschuldigen Sie bitte, dass wir hier einfach so reingeschneit sind«, sagte Pitt, der etwas verblüfft darüber war, dass der Lama bereits über sie Bescheid wusste.
»Der Weg zur Erleuchtung steht allen offen.« Der Lama lächelte. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft.« Der alte Lama führte Pitt und Giordino im Tempel herum, ging dann mit ihnen hinaus, und sie spazierten über das ganze Grundstück.
»Das Kloster stammt aus den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts«, erklärte er. »Seine Bewohner hatten während der großen Säuberung mehr Glück als die meisten anderen. Die Schergen der Regierung zerstörten die Unterkünfte und die Lebensmittellager, dann trieben sie die Gläubigen weg. Aber aus mir unbekannten Gründen rührten sie den Tempel nicht an, der danach viele Jahrzehnte lang leer und verlassen dastand. Die heiligen Texte und andere von uns verehrte Gegenstände wurden von einem hiesigen Hirten gerettet und in der Nähe im Sand vergraben. Als die Regierung wieder Religionsfreiheit gewährte, haben wir den Tempel als Mittelpunkt unserer Klosters wiedereröffnet.«
»Den Gebäuden sieht man ihr Alter kaum an«, stellte Giordino fest.
»Einheimische Hirten und untergetauchte Mönche haben den Tempel in den Jahren der Unterdrückung gepflegt. Die abgeschiedene Lage trug dazu bei, dass die allerschlimmsten Atheisten in der Regierung kein allzu scharfes Auge auf die Anlage haben konnten. Doch wir haben noch viel Arbeit vor uns, bis alles wiederhergestellt sein wird«, sagte er und deutete auf einen Stapel Holz und Baumaterial. »Wir leben noch in Jurten, aber eines Tages werden wir wieder feste Wohnquartiere haben.«
»Sie und ein Dutzend Schüler?«
»Ja, hier leben zwölf Mönche und ein Novize, der zu Gast bei uns weilt. Aber wir hoffen in nicht allzu ferner Zeit weitere zehn junge Männer bei uns aufnehmen zu können.«
Der Lama führte Pitt und Giordino zu einem der kleineren Gebäude neben dem Tempel. »Ich kann Ihnen eine Unterkunft in unserem Lagerraum anbieten. Das Archäologenteam, das uns besucht, ist für mehrere Wochen an einer Grabungsstätte in der Nähe beschäftigt. Sie haben einige Feldbetten zurückgelassen, die Sie benutzen können. Wollen Sie morgen mit dem Versorgungslaster zurückfahren?«
»Ja«, erwiderte Pitt. »Wir müssen unbedingt nach Ulan-Bator.«
»Das wird sich machen lassen. Ich muss zum Unterricht in
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