Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
verhärmten Gesicht betrachteten ihn eingehend. »Mein Gebieter, ich bin stolz, eines Tages wieder der Caithdein zu werden.«
Keine Mißgunst klang in ihren Worten mit, wie Lysaer bemerkte, während sie ihn den Amtsträgern und Ältesten ihres Rates vorstellte, die sich derzeit in dem Außenposten befanden. Sie führte ihn an einer Ehrengarde sich verbeugender Untertanen vorbei, an einer ganzen Reihe brennender Kerzen und damastgedeckter Tische entlang, bis zu dem Podest am Ende der Halle. Unterwegs sah er sich um. Maenalle schien nichts dagegen zu haben, ihre Macht einem jüngeren und unbekannten Mann zu überlassen. In stets gleichbleibender, unzweifelbarer und bescheidener Demut demonstrierte sie absolute Treue gegenüber dem Namen s’Ilessid. Gewappnet für seine Aufgabe, die Loyalität dieser grimmigen und unabhängigen Clans zu gewinnen und ihnen zu beweisen, daß er fähig war, die Regentschaft zu tragen, empfand Lysaer das Geschenk ihres Vertrauens als recht verwirrend.
Er wurde zum Ehrenplatz in der Mitte der Tafel geführt, die mit feinstem Leinen und genug Silber und Kristall gedeckt war, einen Herzog damit freizukaufen. Zu seiner Rechten war Asandirs Platz, während Arithon und Dakar links von ihm saßen. Maenalle und die alten Clanführer nahmen auf der gegenüberliegenden Seite Platz, wo sie sich zwischen ihrem Prinzen und dem Halleneingang befanden und ihm so Schutz bieten konnten und ihn ihrer Gastfreundschaft versicherten. Auf diese Weise mußte jeder potentielle Angreifer erst die Reihen der Gastgeber durchqueren und möglicherweise dem Führer, dem er einst die Treue geschworen hatte, sein Schwert in den Rücken stoßen. Die Rechte des Gastes waren in der Wildnis von Camris nicht vergessen worden, wenngleich diese alte Tradition in den Städten dem Brauch gewichen war, wichtige Persönlichkeiten an den Kopf der Tafel zu setzen.
»Das ist so beschämend wie dumm«, bedauerte Maenalle bekümmert. »Ein Gast am Kopf der Tafel ist isoliert. Er ist ein gutes Ziel für ein böses Spiel, sollte ein Abtrünniger das Haus seines Herrn beschmutzen wollen. Was für einen Respekt erweist ein Gastgeber seinem Gast, wenn er ihn an seiner Stelle der Gefahr aussetzt?« Lysaer sah zu, wie Maenalle den Wein einschenkte, wobei er sich bemühte, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Am Hofe Amroths hatte es keine so wohldurchdachten Gebräuche gegeben, doch ehe er es riskierte, aus purem Unwissen verletzend zu sein, verbiß er sich jeglichen Kommentar. Eine Berührung an seinem Unterarm rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Asandir erinnerte ihn daran, daß die Menschen in dem Saal einen Freundschaftseid von ihm erwarteten. Dieses Ritual war auch Lysaer bekannt. Er erhob sich. Vor den Reihen ihm noch immer nicht vertrauter Clanmitglieder hob er seinen Weinkrug mit Händen, die zu stolz waren, zu zittern.
»Zu diesem Haus, seiner Dame und ihren eingeschworenen Gefährten gelobe ich Freundschaft. Möge Ath eure Familien und Anverwandten beschützen, euren Nachfahren Stärke verleihen und den Namen s’Gannley zu Ehren bringen. Unter diesem Dach und vor Ath gelobe ich, Glück und Sorgen als euer Bruder zu teilen und ebenso treu zu dienen, wie ein jeder Blutsverwandter.«
Lächelnd erhob sich auch Maenalle, um ihm die traditionelle Antwort zu geben: »Eure Anwesenheit ist unsere Ehre.« Sie streckte die schwieligen Hände aus, nahm den Becher von dem Prinzen entgegen und trank die Hälfte des Weines.
Sodann nahm Lysaer den Krug wieder an sich, leerte ihn und stellte ihn kopfüber auf den Tisch zwischen sich und Maenalle. »Dharkaron ist mein Zeuge«, schloß er.
Maenalle wandte sich zu ihren Gefolgsleuten um. »Ehrt den s’Ilessid und heißt ihn in unserem Kreise willkommen!«
Als sich Prinz und Dienerin gesetzt hatten, begann unter dem donnernden Getöse der Jubelschreie der Kundschafter das Bankett. Lysaer, der höfische Sitten gewohnt war, zeigte sich beeindruckt. In dieser kahlen Felsengegend und trotz seines überraschenden Erscheinens bescherten ihm die Barbaren von Camris ein Fest, wie es am Hofe Amroths nicht besser hätte sein können. Weit mehr als ihre wohlfeilen Manieren demonstrierten aber ihre Tischgespräche die zugrundeliegende Kultur.
»Die Arroganz der Städter hat wirklich unglaubliche Ausmaße angenommen«, erzählte Lord Tashan, der älteste Clanführer, während er seine Suppe aß. »Wir haben kürzlich einen Wagen konfisziert. Unter den Gütern waren auch Papiere, mit denen das
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