Der Fluch des Verächters - Covenant 01
viele Bäume, aber ich sehe keinerlei Holz in Verwendung. Betrachtet ihr die Bäume als geweiht oder so etwas?«
»Geweiht?« meinte Atiaran nach einem Moment des Überlegens. »Ich kenne das Wort, aber sein Sinn liegt mir im dunkeln. Es ist Kraft in der Erde, in Bäumen und Flüssen, in Steinen und in der Scholle, und wir erweisen ihr unsere Achtung, weil sie Leben spendet. Deshalb pflegen wir den Friedensschwur abzulegen. Ist es das, wonach du fragst? Wir verarbeiten Holz nicht, weil das Holzwissen, das Lillianrill , uns verlorengegangen ist, und wir haben nie danach getrachtet, es wiederzuerlangen. Während unser Volk in der Verbannung schmachtete, die Trostlosigkeit das Land beherrschte, ging uns vieles Wertvolle verloren. Im Südlandrücken und in den Einöden klammerte sich unser Volk ans Rhadhamaerl , weil es ihm das Überleben ermöglichte. Das Holzwissen dagegen brachte dort keinen Nutzen, und daher geriet es in Vergessenheit. Und nun, da wir ins Land heimgekehrt sind, genügt uns das Steinwissen zum Leben. Andere jedoch haben sich das Lillianrill bewahrt. Ich habe das Holzheim Hocherhaben kennengelernt, das in den Hügeln weiter nordöstlich von hier liegt, und es ist ein gefälliger Ort – die Menschen dort verstehen das Holz und können damit gedeihen. Es wird Handel zwischen den Steinhausen und Holzheimen getrieben, aber man handelt nicht mit Stein oder Holz.«
Als sie verstummte, bemerkte Covenant im erneuten Schweigen eine Abweichung. Ein Moment verstrich, ehe er dessen sicher war, daß er entferntes Stimmengemurmel vernahm. »Ach, die Versammlung«, bestätigte gleich darauf Atiaran, an Trell gewandt, seine Wahrnehmung. »Ich habe versprochen, heute abend zu singen.«
Sie und Trell erhoben sich gemeinsam. »So«, sagte er. »Und anschließend besprichst du dich mit dem Kreis der Ältesten. Ich werde für morgen einige Vorbereitungen treffen. Aha ...« Er wies auf den Tisch. »Morgen wird ein schöner Tag sein. Das Herz des Steins zeigt keinen Schatten.«
Beinahe widerwillig senkte Covenant seinen Blick dorthin auf die steinerne Tischplatte, wohin Trell deutete. Doch er sah nichts. Atiaran bemerkte seine Verständnislosigkeit. »Sei nicht verwundert, Thomas Covenant«, sagte sie freundlich. »Niemand außer einem Rhadhamaerl kann aus Steinen wie diesem hier das Wetter vorausschauen. Nun begleite mich, wenn du's möchtest, und ich trage die Sage von Berek Halbhand als Gesang vor.« Während sie sprach, nahm sie das Leuchtgefäß vom Tisch, um es draußen als Laterne zu verwenden. »Lena, du wirst das Steingut reinigen, ja?«
Covenant stand auf. Als er Lena anblickte, sah er, daß sie eine Grimasse widerwilliger Gehorsamkeit aufgesetzt hatte; eindeutig wäre sie lieber mitgegangen. Trell sah ihre Miene ebenfalls. »Lena, meine Tochter«, sagte er, »begleite unseren Gast. Ich werde nicht zu beschäftigt sein, um mich des Steingutes annehmen zu können.«
Die Freude verwandelte Lena innerhalb eines Augenblicks, und sie sprang auf und warf ihrem Vater ihre Arme um den Hals. Er erwiderte ihre Umarmung und stellte sie dann wieder mit den Füßen auf den Boden. Sie glättete ihr Gewand, versuchte unvermittelt bescheiden zu wirken und begab sich an die Seite ihrer Mutter.
»Trell«, sagte Atiaran, »du wirst dem Kind noch Flausen in den Kopf setzen, bis es sich für eine Königin hält.« Aber sie nahm Lena bei der Hand, um ihr zu zeigen, daß sie nicht wirklich verärgert war, und ging mit ihr durch den Vorhang der Haustür hinaus. Covenant schloß sich den beiden unverzüglich an; er verließ das Haus und trat unter den von vielen Sternen übersäten Nachthimmel mit einer gewissen Erleichterung. Unterm freien Himmel gab es für ihn mehr Raum, um sich selbst zu erforschen. Und er bedurfte dieser Selbsterforschung. Er konnte seine immer stärkere Erregung nicht verstehen, nicht vernünftig begründen. Der Frühjahrswein, den er getrunken hatte, schien für seine inneren Kräfte einen Brennpunkt geliefert zu haben; er wütete in seinen Adern wie ein enthemmter Satyr. Er fühlte sich durch unerklärliche Eingebungen heimgesucht, als sei er das Opfer des Traums, nicht sein Ursprung. Weißgold! Höhnte er lautlos in die Dunkelheit zwischen den Häusern. Wilde Magie! Hält man mich eigentlich für verrückt?! Möglicherweise war er auch verrückt. Vielleicht irrte er gegenwärtig mit Dementia umher, quälte sich selbst mit ersponnenem Kummer und irrigen Ansprüchen, den Zwängen eines Wahngebildes.
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