Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Dergleichen war schon manchem Lepraleidenden widerfahren. Nein! Fuhr er insgeheim auf. Ich bin nicht verrückt! Beinahe hätte er es laut herausgebrüllt. Ich kann den Unterschied erkennen – ich weiß, daß ich nur träume. Seine Finger zuckten aus innerer Aufgewühltheit, aber er atmete tief die kühle Luft ein und gab diese selbstzerstörerischen Gedanken auf. Er wußte nun, wie man einen Traum überlebte. Wahnsinn war die einzige Gefahr.
Als sie zusammen zwischen den Häusern dahinschritten, streifte Lenas geschmeidiger Arm einmal seinen Arm. Seine Haut schien unter der flüchtigen Berührung Funken sprühen zu wollen.
Das Gemurmel einer Menschenmenge schwoll unterwegs rasch an. Kurz darauf erreichten Lena, Atiaran und Covenant den runden Platz in der Mitte des Steinhausens und stießen zu der Versammlung. Dutzende von Leuchtgefäßen in ebenso vielen Händen erhellten den Dorfplatz, und Covenant konnte in dessen Umkreis deutlich sehen. Männer, Frauen und Kinder standen im Kreis zusammengerückt. Covenant vermutete, daß so gut wie die gesamte Einwohnerschaft des Steinhausens herbeigeströmt war, um Atiaran singen zu hören. Die Mehrheit der Menschen war kleinwüchsiger als er – und erheblich kleiner als Trell – und besaß dunkles Haar, braun oder schwarz; auch das stand im Gegensatz zu Trell. Aber dies war ein stämmiger, breitschultriger Menschenschlag, und auch die Frauen und Kinder erweckten den Eindruck bedeutender Körperkräfte; offenbar hatten die Jahrhunderte der Arbeit mit Stein sie dieser Tätigkeit angepaßt. Covenant verspürte wieder die gleiche unklare Furcht, die er bereits beim Anblick Trells empfunden hatte. Diese Leute waren ihm ganz einfach zu stark, und sollten sie sich aus irgendeinem Grund gegen ihn stellen, hatte er zu seinem Schutz nichts vorzuweisen als seine Fremdheit. Sie unterhielten sich angeregt untereinander, während sie nach allem Anschein auf Atiaran warteten, und niemand ließ sich in irgendeiner Beziehung anmerken, daß er – falls überhaupt – von Covenants Auftauchen Kenntnis nahm. Er legte keinen Wert darauf, selber womöglich überflüssig Aufmerksamkeit zu erregen, und blieb im Hintergrund der Versammlung. Lena tat es ihm gleich. Atiaran händigte ihr das Leuchtgefäß aus und betrat dann durch die Menge die Mitte des runden Platzes und des Kreises von Menschen.
Nachdem er die Versammelten begutachtet hatte, lenkte Covenant sein Interesse wieder auf Lena. Sie stand an seiner rechten Seite; ihr Scheitel überragte seine Schulterhöhe um kaum fünf Zentimeter, und sie hielt das Leuchtgefäß mit beiden Händen an ihrer Taille, so daß der Lichtschein ihre Brüste betonte. Sie war sich der Wirkung offensichtlich nicht bewußt, wogegen Covenant sie nur zu eindringlich spürte, und seine Handflächen juckten ihm wieder aus sehnsüchtigem, furchtsamem Verlangen danach, sie zu berühren. Als ob sie seine Gedanken wahrnähme, schaute sie plötzlich zu ihm auf, in ihrer Miene ernste Sanftmut, die sein Herz derartig springen ließ, als wäre es auf einmal für den Gitterkäfig seiner Rippen zu groß geworden. Verlegen wandte er seinen Blick ab, schaute umher, ohne etwas zu sehen. Als er sie wieder ansah, tat sie anscheinend genau das gleiche wie er – vortäuschen, sie schaue sonstwohin. Er preßte die Kiefer aufeinander und schickte sich notgedrungen in Geduld, um abzuwarten, was da kommen möge.
Nach einiger Zeit verbreitete sich unter den Versammelten Ruhe. Am Mittelpunkt des Kreises, den die Menge bildete, stand Atiaran auf einer niedrigen Felsplatte. Sie neigte vor der Versammlung den Kopf, und die Menschen erwiderten ihren Gruß, indem sie wortlos ihre Leuchtgefäße anhoben. Der Helligkeitsschein schien sich um sie zu konzentrieren wie bei einer Penumbra. Als man die Leuchtgefäße senkte und eine letzte Welle der Spannung durch die Versammelten gegangen war, begann Atiaran zu sprechen.
»Heute abend fühle ich mich wie eine alte Frau – meine Erinnerungen sind umwölkt, und ich entsinne mich nicht länger zur Gänze an das Lied, das ich euch singen möchte. Aber ich werde es singen, soweit ich mich darauf besinnen kann, und euch die Geschichte erzählen, so wie ich sie vernommen habe, auf daß ihr, was ich an Wissen besitze, mit mir teilen könnt.«
Auf diese Worte hin durchlief die Menge ein gedämpftes Gelächter – eine humorvolle Anerkennung der turmhohen Überlegenheit von Atiarans Wissen.
Atiaran blieb für einen Moment still, ihren Kopf geneigt, um
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