Der Fluch von Melaten
Ziel zu gelangen, sich aber noch nicht überwinden konnte.
Die Augen hatte er weit aufgerissen. Sie waren zudem verdreht, und der Atem schien ihm im Mund eingefroren zu sein. Das Gesicht war totenbleich, so blutleer war es geworden. Und er wirkte auf mich wie jemand, der fasziniert und zugleich abgestoßen ist und sich deshalb nicht entscheiden kann, was er nun tun soll. Deshalb bewegte er sich nicht. Aber auf seinen Lippen schien unsichtbar das Wort »Mutter« geschrieben zu sein.
Eine von den dreien war es. Oder zumindest das Wesen, das mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, doch daran dachte ich jetzt nicht, denn etwas lenkte mich ab.
Das passierte nicht in der geisterhaften Welt der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart auf dem Friedhof, und es erschienen auch keine Geister, die darauf gelauert hatten. Es waren normale Menschen, die sich aus der Deckung eines dicken Baumstamms lösten.
Zwei Männer, die ich bisher hier noch nicht gesehen hatte, die aber von diesem Anblick derart gefangen genommen waren, dass sie sich nicht von ihm losreißen konnten.
Sie gingen nebeneinander her. Ein Älterer mit dunklen Haaren und einem Oberlippenbart und ein Jüngerer, der einen dieser Business-Anzüge trug, sein Haar modern geschnitten hatte, und in seinem leicht verdreckten Outfit keinen Eindruck mehr schinden konnte. Er war ebenso fasziniert wie sein Partner oder Leidensgenosse. Es kam immer darauf an, wie man das Ganze sah.
Ich konnte nicht sagen, wie ich als normaler Zeuge bei diesem Phänomen reagiert hätte. Vielleicht wäre ich weggelaufen, denn es ist nicht jedermanns Sache, mit dem Unheimlichen und Unerklärlichen konfrontiert zu werden.
Genau das taten die beiden Männer nicht. Sie gingen vor, und sie kannten wirklich nur ein Ziel, das sie nicht aus den Augen ließen. Alles andere interessierte sie nicht. Sie setzten einen Fuß vor den anderen und ließen die drei Frauen nicht aus den Augen.
Justus Schmitz hatte von seiner Mutter gesprochen. Den Beweis hatte man mir noch nicht geliefert. Nur ging ich schon jetzt davon aus, dass auch die drei anderen bleichen Gestalten ebenso Mütter waren und auf ihre »Söhne« warteten.
Ich war gezwungen, dies zunächst hinzunehmen, ohne nach Hintergründen zu fragen, aber weit konnte ich nicht mehr von einer Lösung entfernt sein.
Ich schaute wieder in das Zeitloch hinein. Die drei Frauengestalten standen noch immer auf dem kleinen braunen Erdhügel und blickten in die gleiche Richtung. Nach meinem Gefühl warteten sie auf ihre Söhne, aber die bewegten sich nicht mehr. Auch die beiden anderen Männer waren stehen geblieben.
Ich schaute wieder auf Justus Schmitz. Er kämpfte mit sich. Er hatte den ersten Schreck überwunden und war noch durcheinander. Sein Kopf bewegte sich hin und her. Er entdeckte auch die beiden Fremden, ohne darauf zu reagieren. Ich stellte fest, dass er etwas sagen wollte, aber noch fiel es ihm schwer, so dass ich überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte.
Noch war die Lage unklar, denn niemand von uns bewegte sich. Es war ein Abwarten wie kurz vor dem Finale, zu dem bald der Startschuss fallen würde.
Ich war es, der die Stille unterbrach. »Justus!«, rief ich. Nicht sehr laut, auch nicht in einem Befehlston, da ich ihn nicht erschrecken wollte, aber immerhin so, dass er mich einfach hören musste und nach meinem Ruf auch zusammenzuckte.
Für einen Moment war er unsicher. Sein Blick flackerte. Er sah nach rechts, dann nach links, und schließlich pendelte sich sein Blick auf mich ein.
Ich sah einen verzweifelten Menschen. Justus Schmitz war von dem Anblick hin- und hergerissen. Mir war nicht bekannt, ob er darauf gewartet hatte, das konnte möglich sein, aber jetzt, wo sich ihm die andere Seite zeigte, da wusste er nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.
»Können Sie sprechen, Justus?«
Er zuckte leicht zusammen. Dann schüttelte er den Kopf, schaute mich aber wieder an, und ich sah, dass er so etwas wie ein Nicken andeutete.
»Das ist gut. Danke. Sie müssen jetzt ruhig bleiben. Ich will nicht wissen, ob Sie es gewusst oder geahnt haben, was wir hier vorfinden, aber Sie haben von Ihrer Mutter gesprochen. Damit komme ich zu meiner Frage. Ist eine dieser drei blassen Gestalten Ihre Mutter? Können Sie das sagen? Sind Sie in der Lage, mir eine konkrete Antwort zu geben? Bitte, es wäre wichtig für mich...«
Er hatte mich gehört, aber ob er den Sinn meiner Worte begriffen hatte, war mir nicht klar, denn er tat noch nichts.
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