Der Fluch
abbrach. Nur dass ich mir damals nichts dabei gedacht habe, weil die Narkose mich immer noch betäubte und … das habe ich erst später erfahren, man mir ein Beruhigungsmittel gespritzt hatte. Ich sollte mich erst einmal erholen, bevor ich die Wahrheit erfuhr.
Noch heute kommt mir das vor wie Betrug. Ich hätte Sally in den Armen halten können. Ich wäre bei ihr gewesen. Und … bilde ich mir ein, vielleicht wäre sie dann am Leben geblieben.
Verzweifelt hebe ich die Hände und presse sie auf meine Ohren. Das Geräusch wird schwächer. Ich drücke noch fester und das Weinen verschwindet fast vollständig.
Ich weiß, was das zu bedeuten hat. Es existiert nicht nur in meinem Kopf. Es ist real.
Es klingt jämmerlich und wird immer wieder unterbrochen von einer unheimlichen Stille. Es sind Hilfeschreie und ich fürchte, wahnsinnig zu werden.
Ich muss es wissen.
Ich muss wissen, woher dieses Weinen kommt.
Kommt es von draußen?
Ich gehe zum Fenster und starre hinaus. Schwarze Wolken schieben sich schwerfällig über den Himmel. Sie sinken tiefer und tiefer, als wollten sie das Tal mit ihrer Dunkelheit erdrücken.
Die Tür zum Balkon klemmt wie immer und lässt sich nur schwer öffnen. Ungeduldig rüttele ich daran, trete dagegen, bis sie endlich aufspringt. Kalte, feuchte Luft schlägt mir entgegen und nimmt mir den Atem. Aber das Weinen ist schwächer geworden. Oder ist es nur der Wind, der es verschluckt?
Ich bleibe einige Sekunden stehen. Über dem See liegt eine dünne Schicht Nebel, der seltsame Formen bildet. Ich glaube, ein Gesicht zu erkennen, das mich an die Totenmaske auf meinem Bild erinnert.
Ein eisiger Schauer überfällt mich. Ich denke wieder an das Bild auf der Staffelei neben meiner und weiß plötzlich, wer es gemalt hat.
Muriel.
Die kalte Luft kriecht in meinen Nacken. Aber die Kälte macht mir nichts aus. Im Gegenteil – ich werde richtig wach. Die Erschöpfung, diese bleierne Müdigkeit fällt einfach von mir ab. Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Probiere es mit Logik. Irgendwoher muss das Weinen kommen. Und es kann nicht weit entfernt sein von mir.
Aber nicht von hier draußen. Nein, dann müsste ich es jetzt deutlicher hören.
Ich lehne mich über das Geländer und nehme das Gebäude in Augenschein. Es liegt in völligem Dunkel. Nichts.
Ich kehre ins Zimmer zurück und überlege, ob ich jemanden um Hilfe bitten soll. Ich könnte Katie wecken oder David anrufen. Mrs Jones’ Telefonnummer fällt mir ein.
Aber ich weiß, ich werde niemanden anrufen, obwohl die Angst einen Schwall Übelkeit zur Folge hat. Ich hole tief Luft und schlucke sie einfach hinunter. Als ich mein Zimmer verlasse, bricht das Weinen wieder abrupt ab.
Was, wenn es vorbei ist?
Wäre ich dann beruhigt?
Nein.
Ich weiß, ich bewege mich auf einem schmalen Grat. Sosehr ich mich danach sehne, das Weinen möge aufhören, wünsche ich gleichzeitig das Gegenteil. Denn ich spüre, ich bin der Lösung auf der Spur. Wer immer mir das antut, wer immer hinter allem steht, er kommt mir näher und näher. Er wird nicht aufgeben, bevor er nicht dafür gesorgt hat, dass ich mich völlig auflöse. Und ich will ihm in die Augen sehen.
Als das Geräusch das nächste Mal ertönt, hole ich tief Luft und versuche, mich zu konzentrieren. Okay, raus auf den Flur.
Ich beginne mit der Küche. Reiße die Schubladen auf, durchwühle sie, werfe das Besteck durcheinander, räume das Geschirr aus. Die Schränke mit Geschirr und Gläsern. Die Zeitschriftenstapel auf dem Tisch. Nicht einmal der Kühlschrank ist vor mir sicher.
Das Geräusch ist wieder verstummt. Es bleibt totenstill. Bis auf das Surren der Lampe, deren Glühbirne dabei ist, den Geist aufzugeben. Der Verbrauch an Glühbirnen im Apartment ist exorbitant. Keinen Tag, an dem nicht irgendwo eine gewechselt werden muss. Das liegt an den Schwankungen im Stromnetz.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchte ich, das Weinen könnte tatsächlich nicht wieder einsetzen. Alles andere würde bedeuten, dass ich langsam verrückt werde. Und dass ich vielleicht nie herausfinden werde, wer mir das antut. Und warum.
Weiter.
Das Badezimmer.
Der Wasserhahn tropft, als zähle er die Sekunden. Wie in einer Sanduhr verrinnt die Zeit, in der sich nichts bewegt, und die Stille, die mich glauben lässt, ich hätte es mir nur eingebildet.
Aber auch hier nichts.
Als ich das Badezimmer verlasse, setzt das Weinen endlich wieder ein.
Ich verharre. Lausche.
Und jetzt bin ich mir
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