Der Fluch
Welle des Glücks.
Ich sah mich im Zimmer um. Ein typisches anonymes Krankenhauszimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und dadurch lag der Raum in einem Halbdunkel, in dem sich die einzelnen Möbelstücke in Umrissen abzeichneten.
Sally war nicht da.
Unsicherheit erfüllte mich. Etwas stimmte hier nicht.
»Wo ist sie?«, fragte ich.
Tränen traten in Moms Augen.
Ich ließ ihre Hand los. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Vielleicht ist es besser so«, flüsterte Mom und griff wieder nach meiner Hand. Ihre Finger fühlten sich kalt an. Ich schüttelte sie ab.
»Besser so?«, wiederholte ich irritiert, unfähig zu begreifen, was meine Mutter meinte.
»Rose«, sagte sie liebevoll und die Tränen rannen ihr jetzt über die Wange. »Manchmal, mein Schatz, trifft das Schicksal die Entscheidungen, die man selbst nicht treffen kann.«
Sie meinte es gut. Und es war vermutlich ein kluger Satz, aber er half mir nicht weiter. Außerdem war ich diejenige, die das Schicksal ziemlich gut kennengelernt hatte. Es hatte vor Monaten über mich entschieden und ich hatte es akzeptiert, zumindest was Sally betraf. Sie war das Beste in meinem jetzigen Leben.
Niemand hatte verstehen können, warum ich dieses Kind haben wollte. Nicht meine Mom, die für alles Verständnis hatte, nicht meine Freunde, keiner.
Und es hatte tatsächlich eine Zeit gegeben, zu der ich gezweifelt hatte. Wochen, in denen ich darüber nachgedacht hatte, aufzugeben, nachzugeben. Das zu tun, was alle von mir erwarteten. Zu tun, was alle für das Beste hielten.
Aber ich hatte es nicht über mich gebracht.
Sally war ein Teil von mir und ich wollte für sie kämpfen. Das war ich ihr schuldig. Sie sollte es spüren. Ihr wundervolles Leben lang.
Wieder schweiften meine Augen durch das Zimmer, das seltsam leer wirkte. Zu leer.
Es gab keine Spur von Sally. Nichts. Kein Kinderbett. Die Kommode war leer geräumt. Aber was mich wirklich am meisten irritierte, war die Stille im Zimmer.
»Warum ist sie nicht hier?«
»Sie …«, meine Mutter brach ab.
»Sie heißt Sally«, hörte ich mich sagen.
Mom schluckte und begann von vorne. »Sally … sie … sie hat es nicht … geschafft.«
Ich hielt sekundenlang die Luft an.
Geschafft?
Was meinte sie damit?
Was geschafft?
Panik.
Sie stieg ganz langsam von den Zehenspitzen bis nach oben.
»Sie …«
»Sally«, verbesserte ich hartnäckig meine Mutter.
»Rose, du weißt, es war zu früh. Acht Wochen vor dem Termin. Der Kaiserschnitt … Sie …«
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich erleichtert. »Sie wird überwacht, meinst du? Im Brutkasten?«
Mom schüttelte den Kopf. »Nein, Rose, sie ist … sie ist gestorben, Rose. Es tut mir so leid, aber Sally ist gestorben.«
Das konnte nicht sein.
Ich hatte sie doch gehört. Und ich hatte sie gesehen.
Ihre Augen. Das winzige Gesicht. Wie sie die Finger bewegte.
Sie war wunderschön.
»Das kann nicht sein …« Ich schüttelte den Kopf.
»Rose, Liebling, ich wünschte …« Mom wischte sich über die Augen.
»Wo ist sie?«
Ich richtete mich auf. Irgendetwas piepste laut. Ich ignorierte es. »Ich will sie sehen.«
»Meinst du nicht, das wird dich nur noch trauriger machen?«
Traurig?
Ich war nicht traurig.
Trauer, das war ein Gefühl. Und zu Gefühlen war ich nicht in der Lage. Ich musste etwas unternehmen.
Entschieden schlug ich die Bettdecke zur Seite und versuchte aufzustehen.
Wieder dieses verzweifelte Piepsen.
Erst jetzt merkte ich, dass ich an einer Infusion hing. Ich begann, die Nadel herauszuziehen, bis meine Mutter versuchte, mich davon abzuhalten.
»Rose, du … du bist noch zu schwach. Du musst liegen bleiben.«
»Ich will sie sehen. Zieh die Vorhänge zur Seite.«
»Sie ist nicht hier, versteh doch.«
»Zieh die Vorhänge zur Seite.«
Mom ging zum Fenster und gleich darauf drang durch die hohen Fensterscheiben eine grelle Sonne und zusammen mit den weiß gestrichenen Wänden erfüllte eine Helligkeit den Raum, die mich blendete.
»Ich muss sie suchen.« Wieder zog ich an der Infusionsnadel. Spürte den Schmerz nicht, als es mir gelang, mich davon zu befreien.
Aber ich war zu schwach, um aufrecht zu stehen. Und alles, woran ich mich im Nachhinein erinnerte, war meine Hilflosigkeit und ein Zimmer, das plötzlich voller Leute war.
Und ich schrie die ganze Zeit: »Aber sie hat doch geweint. Sie hat geweint. Ich habe es deutlich gehört.«
24. Rose
Das Weinen setzt wieder ein.
Es klingt genauso wie Sallys Weinen, bevor es plötzlich
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