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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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sicher. Es kommt aus meinem Zimmer. Ich renne zurück und auch diesmal achte ich nicht darauf, welches Chaos ich verursache. Ich reiße alles aus den Schränken: Kleider, Wäsche, Bücher, Kosmetik. Stolpere über meine Tasche, bleibe mit einem Bein am Schreibtisch hängen und wäre fast gefallen, hätte ich mich nicht festgehalten.
    Nichts. Nichts. Nichts.
    Aber es ist hier. Ich weiß es. Es ist ganz in meiner Nähe und wartet auf mich.
    Ich hole tief Luft.
    Durch die offene Balkontür dringt noch immer die kalte Nachtluft. Ich schließe die Augen und konzentriere mich, bemühe mich, das Rauschen in meinen Ohren auszuschalten und das laute Klopfen meines Herzens zu ignorieren. Es gibt nur ein Geräusch, das von Bedeutung ist. Das schrille anhaltende Weinen eines Kindes. Und es ist ganz in meiner Nähe.
    Mein Blick fällt auf den Koffer, der auf dem Schrank verstaut ist. Ein Gedanke breitet sich in mir aus. Meine letzte Hoffnung. Ich ziehe den Stuhl heran, steige hinauf und …
    Das Geräusch bricht ab.
    Beginnt von Neuem.
    Bricht ab …
    Fängt wieder von vorne an … ist es deutlicher zu hören als vorher? Lauter? Ja, bilde ich mir ein und reiße den Koffer mit aller Kraft an mich, sodass ich das Gleichgewicht verliere und vom Stuhl falle. Ich pralle gegen den Schrank und spüre einen jähen Schmerz am Ellenbogen.
    Der Koffer liegt jetzt vor mir auf dem Boden und eine Zeit lang starre ich ihn nur an.
    Meine Finger zittern so stark, dass ich es kaum schaffe, sie unter Kontrolle zu halten. Doch meine Sinne sind in diesem Moment unnatürlich geschärft. Der Geruch der Staubschicht, die auf dem Koffer liegt; die Schweißtropfen, die zwischen den Schulterblättern nach unten rinnen; der Wind, der draußen durch die Ahornbäume weht und die ersten Blätter des Frühlings in Bewegung setzt.
    Mein Herz schlägt bis zum Hals.
    Das Weinen kommt aus diesem Koffer.
    Ich strecke die Hand aus und ziehe sie wieder zurück.
    Bin ich wirklich sicher?
    Ja.
    Die Wahrheit ändert sich nicht, indem man die Augen davor verschließt. Das wird mir jetzt klar. Etwas, das ich die letzten beiden Jahre versucht habe zu ignorieren.
    Der Reißverschluss verheddert sich im Stoff und ich habe Mühe, ihn aufzumachen. Die Abstände zwischen Weinen und Stille werden nun immer kürzer. Es ist unerträglich.
    Endlich schaffe ich es.
    Ich schlage den Deckel zur Seite und starre in das Innere.
    Zunächst glaube ich, der Koffer ist leer. Bis ich plötzlich das Handy erkenne, das unter die Innenverkleidung gerutscht ist. Ich ziehe es hervor. Mit jedem Schrei leuchtet es grell auf und mit jedem Ton vibriert es in meiner Hand. Als ob ich ein Insekt in meinen Händen halte, das verzweifelt versucht, sich zu befreien.
    Es dauert eine Weile, bis ich es wirklich begreife.
    Dieses Weinen. Dieser jämmerliche Tonfall – nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Klingelton. Ein Scherz, nicht mehr. Aber für mich ist es der Horror.
    Werde ich beobachtet, wie ich hier sitze und das Handy in meiner Hand anstarre? Das Weinen hat wieder aufgehört und diesmal dehnt sich die Zeitspanne in die Unendlichkeit aus. Das Telefon bleibt stumm. Wieder folgt diese unheimliche Stille, die ich mit meinen Gedanken und der Panik fülle.
    Ich weiß, was dieses Handy bedeutet. Am anderen Ende wartet jemand darauf, mit mir Kontakt aufzunehmen.
    Nicht jemand, schießt mir abrupt durch den Kopf.
    Sondern Muriels Mörder.

Dave Yellads Reisetagebuch
    Schottland, 10. August 1913
Mein Artikel über die Psilocybe aurea und ihre Bedeutung als Quelle der Weisheit wurde erneut von der Zeitschrift The National Geographic Magazine abgelehnt. Der Brief lag auf dem Schreibtisch, als ich von meinem morgendlichen Spaziergang durch den Park zurückkehrte. Wie immer bedankte man sich recht höflich für die Arbeit und wies darauf hin, dass kein Interesse daran bestünde.
    Die Ignoranz der angeblichen Wissenschaft in diesem Teil der Welt ist so groß, dass ich es nicht ertragen kann. Nicht genug, dass sie über mich lachen, mich einen Scharlatan nennen, weil sie die Bedeutung meiner Formel einfach nicht verstehen. Für sie existiert nichts, was nicht erklärbar ist, und sie begreifen nicht, dass die Natur sich als umso größer und mächtiger erweist, je unverständlicher sie ist.
    Alles, was die Wissenschaft heute leistet, ist Flickwerk. Sie versucht, die Phänomene der äußeren Erscheinungen in Naturgesetzen und Formeln zu beschreiben. Doch jeder Versuch, das Große zu erfassen, das die Natur im

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