Der Flug der Adler
daß wir sämtliche Möglichkeiten sondieren. Spielen Sie einfach auf Zeit, bis Himmler sich anderen Dingen zuwendet.«
»Also gut, ich werde schön artig sein.« Er schenkte sich nach. »Aber im Ernst, einen Attentäter nach England. Was erwarten die eigentlich von mir?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, nach einer Weile werden die's vergessen haben. Ich geh und setz einen Kaffee auf. Den haben Sie jetzt nötig, bei dem vielen Weinbrand«, und damit ging sie in ihr Büro zurück.
Natürlich lagen sie beide mit ihrer Einschätzung daneben, denn schon bald sollte eine Kette von Ereignissen ausgelöst werden, die für alle Beteiligten weitreichende Konsequenzen zeitigen würde.
12
Jacaud entsprach ganz und gar nicht der Vorstellung, die Harry sich von ihm gemacht hatte. Er war allenfalls eins fünfundsechzig groß, trug eine Nickelbrille, einen Tweedanzug mit Regenmantel und einen Schlapphut und sah eher wie ein Schuldirektor aus. Sie unterhielten sich auf französisch.
»Ihr recht eigentümlicher Status ist mir von Brigadegeneral Munro erklärt worden, Colonel«, sagte Jacaud. »Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben – wie aus einem Roman, diese Geschichte mit Ihnen und Ihrem Bruder.«
»Ich glaube, es war Oscar Wilde, der gesagt hat, daß das Leben in seinen bemerkenswertesten Momenten einem schlechten Roman gleicht«, sagte Harry.
»Hört sich interessant an, obwohl Begriffe wie gut und schlecht in dem Leben, das ich führe, kaum eine Bedeutung haben.« Jacaud zündete sich eine Gitane an. »Wie sind die Wetteraussichten?«
»Hervorragend. Waren Sie schon mal in Cold Harbour?«
»O ja. Der Brigadegeneral und ich kennen uns bereits seit langer Zeit, und Julie Legrande und ihr Mann waren in den frühen Tagen der Resistance in Paris gute Kameraden.«
In dem Moment fuhr draußen ein Dienstwagen vor, dem Munro und Jack Carter entstiegen.
»Na endlich«, sagte Munro. »Entschuldigen Sie die Verspätung. Wir fliegen gleich los, wenn's Ihnen recht ist, Harry.«
»Gewiß, Herr Brigadegeneral. Wir sind startklar.«
Munro und Jacaud gingen voraus, Harry und Carter folgten ihnen. »Nachricht von Molly«, sagte der Major. »Sie wollte sich eigentlich von Ihnen verabschieden, aber wie immer gab's irgendwelche Notfälle im Guy's. Sie kennen das ja.«
»Sie hängt sich zu sehr rein«, sagte Harry. »Aber morgen abend werde ich sie in den River Room ausführen. Ein gutes Essen, Carrol Gibbons spielt die passende Musik – kann man denn mehr verlangen?«
»Molly schon«, sagte Carter.
»Na ja, die Wege der Frauen sind unerforschlich, jedenfalls für mich. So, dann wollen wir mal.«
Harry hatte recht gehabt, was die Wetteraussichten betraf. Ein zerrissener Wolkenhimmel mit Viertelmond. Hervorragende Bedingungen für einen Tiefflug. Sie beugten sich in der Bibliothek über die Karte. Harry malte einen roten Kreis um Morlaix.
»In einer Heidelandschaft fünf Meilen außerhalb. Sie kennen sich da natürlich aus.«
»Wie in meiner Westentasche«, sagte Jacaud.
»Gut. Die üblichen Bodensignale. Ohne Umwege reinfliegen, Sie steigen aus, und ich hebe sofort wieder ab.«
»Haben Sie Vertrauen, Colonel. Ich mache das jetzt bereits zum sechstenmal«, sagte Jacaud.
»Dann wäre ja alles geklärt.« Harry warf einen Blick auf die Uhr und wandte sich an Munro. »In zwanzig Minuten, Herr Brigadegeneral?«
»Sie sind der Chef«, sagte Munro, nahm seine Mütze und ging zur Tür.
Lysander-Piloten unterschieden sich in jene, die es vorzogen, in mehreren tausend Fuß Höhe zu fliegen, und jene, denen ein Flug knapp über dem Meeresspiegel lieber war, unsichtbar für den gegnerischen Radar. Es machte letztere jedoch auch zur Zielscheibe von Geschützfeuer der Kriegsmarine beider Seiten, sollten sie auf entsprechende Schiffe stoßen. Aber im Falle eines verhältnismäßig kurzen, höchst riskanten Flugs mit dem Ziel, eine so wichtige Person wie Jacaud abzusetzen, blieb einem letztlich keine Wahl.
Der Flug von Cornwall nach Frankreich stellte bei den günstigen Wetterverhältnissen kein Problem dar. Mit vierhundert, fünfhundert Fuß Höhe befand sich Harry unterhalb des gegnerischen Radars. Der Flug verlief eigentlich recht angenehm. Tarquin saß wie immer auf dem Boden des Cockpits. Doch dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte.
Plötzlich tauchten auf der Backbordseite zwei Torpedoboote der königlichholländischen Marine auf, die
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