Der Flug der Stoerche
Diuretikum! Nur die Roma - der >Stamm<, wie sie sich selber nennen - wissen, wo alle diese Wildpflanzen wachsen. Sie beliefern die bulgarische Pharmaindustrie, die größte von ganz Osteuropa. Du wirst schon sehen: sie sind unglaublich. Sie ernähren sich von Igeln, Fischottern, Fröschen, Brennesseln, wildem Sauerampfer . von allem, was die Natur ihnen in unmittelbarer Reichweite bietet.« Marcel geriet ins Schwärmen: »Meine Güte, mindestens ein halbes Jahr ist es her, seit ich Rajko zum letzten Mal gesehen habe!«
Anschließend unterhielt mich mein Begleiter eine Viertelstunde lang mit Albanerwitzen: auf dem Balkan sind die Albaner die Ostfriesen, Belgier oder Österreicher Westeuropas. Minaus war davon hingerissen. »Und den, kennst du den? Eines Morgens erscheint in der Prawda eine Sondermeldung: >Bei einem Manöver auf See vernichtete ein schweres Unglück die Hälfte der albanischen Flotte. Das linke Ruder ist zerstört.«
Marcel lachte in seinen Bart hinein. »Noch einen. Die Albaner starten ein Raumfahrtprogramm in Zusammenarbeit mit den Russen. Man plant eine Weltraummission mit einem Tier an Bord. Sie schicken den Sowjets ein Telegramm: >Haben Hund. Schickt Rakete.<« Ich brach in Gelächter aus. Marcel setzte hinzu: »Natürlich ist das heutzutage alles nicht mehr so lustig. Trotzdem sind mir die Albanerwitze nach wie vor die liebsten.«
Als nächstes verbreitete sich Marcel in einer langen Lobeshymne auf die Küche der Zigeuner und bemerkte nebenbei, er trage sich mit dem Gedanken, in Paris ein Spezialitätenrestaurant zu eröffnen. Der >Renner< in der Gastronomie der Roma sei der Igel. Er werde abends gejagt, und zwar mit einem Stock, und aufgeblasen, damit die Stacheln sich leichter entfernen ließen. Zubereitet mit zumi, einem besonderen Mehl, und dann in sechs gleich große Stücke zerteilt, sei das Tier eine wahre Köstlichkeit.
»Das heißt, wir sollten unterwegs die Augen offenhalten.«
»Vergiß es«, gab Marcel in schulmeisterlichem Ton zurück. »Niemals geht ein Igel tagsüber spazieren!«
Aber justament erschien in diesem Augenblick ein Igel am Straßenrand und strafte ihn Lügen. Marcel war sprachlos.
»Sicher ein krankes Tier«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Oder ein schwangeres Weibchen.«
.Wieder fing ich an zu lachen. Wo waren die kalten Länder des Ostblocks geblieben, die tyrannischen Diktaturen, die graue Trostlosigkeit? Marcel schien eine magische Fähigkeit zu besitzen, den Balkan in ein ideales Reiseland zu verwandeln, einen Ort der Phantasie und der Lust, voller Humor und menschlicher Wärme.
Aber dann kamen wir in die Gegend von Sliven. Die Straßen wurden enger und kurvenreicher, düstere Wälder rückten näher. Wir begegneten jetzt etlichen >Zigeunerwagen<, wackligen Karren, auf denen Familien kauerten und uns aus schwarzen Augen musterten. Dunkle Gesichter, zerzauste Haare, in Lumpen gekleidete Gestalten. Mit einer Yeta hatten diese Zigeuner nichts gemein. Die Zeit der Roma war gekommen. Der echten - die als Nomaden leben und einen bestehlen, geschickt und wie nebenbei, mit Verachtung und Herablassung.
Bald darauf hieß Marcel mich rechts in einen Weg einbiegen, einen schmalen Lehmpfad, der von der Landstraße abwärts und mitten durchs Dickicht einen Bachlauf entlangführte. Bald sahen wir vor uns eine Lichtung und erkannten durch die Bäume ein Lager: vier Zelte in grellen Farben, ein paar Pferde, Frauen, die im Gras saßen und Kränze aus weißen Blüten flochten.
Marcel stieg aus dem Wagen und rief ihnen von weitem in singendem Tonfall etwas zu. Die Frauen bedachten ihn mit einem eisigen Blick.
Daraufhin drehte Marcel sich zu uns um und sagte: »Da gibt’s wohl ein Problem. Wartet hier auf mich.« Ich sah seinen blanken Schädel zwischen dem Laub verschwinden, bis seine breite Gestalt am Rand der Lichtung wieder auftauchte. Eine der Frauen war aufgestanden und sprach lebhaft auf ihn ein. Sie trug einen sonnenblumengelben Pullover, der sich eng an ihre schlaffen Brüste schmiegte. Ihr Gesicht war bräunlich und grobschlächtig, wie aus Rinde geschnitzt. Unter ihrem buntgemusterten Tuch schien sie alterslos: mir fiel nur ein Zug besonderer Härte auf, eine Wildheit, die ihr deutlich spürbar im Gesicht stand. Die zweite Romni war aufgestanden, kleiner als sie, und zu ihr getreten; sie nickte zustimmend. Sie hatte eine schiefe Höckernase, als hätte ihr jemand mit einem Fausthieb das Nasenbein gebrochen, und in den Ohren trug sie schwere Silberringe.
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