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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Reise Sie nicht nach Zentralafrika führt, wo vielleicht alle diese Rätsel aufgeklärt werden könnten. Vielleicht finden Sie etwas in Ägypten oder im Sudan? Ich hingegen werde mir ab dem 7. September eine Woche Urlaub nehmen. Ich will nach Antwerpen und mir die Diamantenbörse ansehen. Ich bin fest überzeugt, daß ich dort auf Max Böhms Spuren stoßen werde. Sämtliche Informationen lasse ich Ihnen auf der Stelle zukommen. Wir sollten darüber nachdenken und sobald wie möglich Kontakt aufnehmen. Bis demnächst,
    Hervé
     
    Je mehr ich las, desto wirrer wurden meine Gedanken. Ich versuchte, meine eigenen Teile in das Puzzle einzufügen: die Bilder von Irene und Philipp Böhm, die Röntgenaufnahme von Böhms Herzen und vor allem die unsäglichen Fotografien der verstümmelten Leichen von Schwarzen. Es gab noch etwas, das Dumaz nicht wußte: die Geschichte von Zentralafrika kannte ich bestens - ich hatte persönliche Gründe, sie zu kennen. So war mir der Name des Leutnants von Bokassa, Otto Kiefer, nicht unbekannt. Ein tschechischer Flüchtling, grausam und erbarmungslos, gefürchtet wegen seiner Einschüchterungsmethoden: er pflegte Gefangenen eine Handgranate in den Mund zu stopfen, und wenn sie sich weigerten zu reden, ließ er sie explodieren. Diese Technik hatte ihm den grotesken Beinamen Granatenotto eingetragen. Böhm und Kiefer: zwei Gesichter ein und derselben Grausamkeit, Drahtzange und Handgranate.
    Ich löschte das Licht. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen. Schließlich rief ich, ohne Licht zu machen, das Argos-Zentrum an. Zu dieser späten Stunde war das Telefonnetz von Sofia weniger überlastet als sonst, und ich bekam eine perfekte Verbindung. Auf meinem Bildschirm, der digitalisierten Landkarte von Osteuropa, zeichnete sich im bläulichen Zwielicht meines Hotelzimmers wieder einmal die Flugroute der Störche ab, schwarz auf weiß. Es gab nur eine interessante Neuigkeit: ein Storch war in Bulgarien eingetroffen. Er war auf der Tiefebene unweit von Sliven gelandet, der Stadt, in der Rajko Nikolitsch lebte.

10
     
    »In Sofia ist alles im Umbruch. Zur Zeit hängt man dem >großen amerikanischen Traum< nach. In Ermangelung einer europäischen Zukunft in greifbarer Nähe wenden die Bulgaren sich den Vereinigten Staaten zu. Wenn Sie heute in Sofia englisch sprechen, öffnen sich ihnen alle Türen. Angeblich müssen Amerikaner für ihre Visa nichts mehr zahlen, und das ist wirklich der Gipfel! Noch vor zwei Jahren hieß Bulgarien >die sechzehnte Sowjetrepublik<.«
    Marcel Minaus sprach laut und leidenschaftlich, hin und her gerissen zwischen Entrüstung und Hohn. Es war zehn Uhr vormittags. Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir den Hohen Balkan entlang. Die Felder ringsum leuchteten in unerwarteten Farben, krachendem Gelb, sanftem Blau, Blaßgrün, bebend unter der Liebkosung des Lichts. Dörfer tauchten auf, kreidig und leicht mit ihren Hauswänden unter grobem Verputz. Ich hielt mich an Marcels Anweisungen. Er hatte Yeta mitgenommen, seine >Braut<, wie er sagte, eine merkwürdige Zigeunerin, die ein imitiertes Chanel-Kostüm aus kariertem Baumwollstoff trug. Klein und rundlich war sie, nicht mehr ganz taufrisch, auf ihrem Kopf türmte sich eine gewaltige graue Mähne, unter der ein spitzes Gesichtchen mit schwarzen Mausaugen hervorspähte. Ihre Ähnlichkeit mit einem Igel war verblüffend. Sie sprach ausschließlich Romani und hielt sich im Hintergrund wie ein artiges Mädchen.
    Marcel war inzwischen zu Rajko Nikolitsch übergegangen, dessen Meriten er lautstark rühmte. Beiläufig begann er mich zu duzen.
    »Du kannst es überhaupt nicht besser treffen«, sagte er immer wieder. »Rajko ist noch sehr jung, aber er ist ein außergewöhnlicher Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Übrigens nimmt er inzwischen an internationalen Symposien teil. Die Bulgaren sind stinkwütend auf ihn, weil Rajko sich weigert, in der Delegation seines Landes aufzutreten.«
    »Ist er denn kein Bulgare?« fragte ich erstaunt.
    Marcel lächelte unbestimmt. »Nein, Louis«, sagte er. »Er ist ein Roma, ein Zigeuner. Und keiner von den Bequemsten. Er stammt aus einer Pflückerfamilie. Zu Beginn des Frühlings verlassen die Roma das Ghetto von Sliven und ziehen in die Wälder rings um die Ebene. Sie sammeln Lindenblüten, Kamille, Kornelkirschen, Kirschenstiele . « Marcel wunderte sich, als ich große Augen machte, und rief: »Wie, das weißt du nicht? Kirschenstiele sind ein sehr bekanntes

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