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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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kämpfe dagegen an. Soweit ich kann, versuche ich die Leiden meines Volkes zu lindern. Paradoxerweise hat mir meine körperliche Schwäche eine enorme Kraft verliehen. In Ihrer Welt ist ein Zwerg bloß eine Art Monster, niedergedrückt von der Last seines Andersseins. Aber ich bin in erster Linie immer ein Roma gewesen. Meine Abstammung war eine Gnade für mich, eine zweite Chance, verstehen Sie? Zu dem Kampf, den ich wegen meines Andersseins führen muß, ist eine zweite Sache gekommen, die viel umfassender ist, viel erhabener. Die Sache meines Volkes. Also lassen Sie mich meinen Weg gehen. Wenn irgendwelche Sadisten beschlossen haben, ihren Opfern das Gedärm aus dem Leib zu reißen, sollen sie sich in Zukunft an den gadsche schadlos halten - mir ist das herzlich gleichgültig.«
    Ich stand auf. Djuric rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, um die Füße auf den Boden zu setzen. Auf seinen krummen Beinen ging er mir voraus. In der erdrückenden Hitze und dem Halbdunkel des Flurs, in dem immer noch die Musik dröhnte, zog ich wortlos meine Schuhe an, und als ich mich wieder aufrichtete, um mich zu verabschieden, sah ich, daß Djuric mich eindringlich musterte.
    »Merkwürdig«, sagte er. »Mir kommt ihr Gesicht bekannt vor. Kann es sein, daß ich jemanden aus Ihrer Familie kennengelernt habe, als ich in Frankreich war?«
    »Das glaube ich nicht. Meine Familie hat nie in Frankreich gelebt. Außerdem sind meine Eltern gestorben, als ich sechs war. Von anderen Verwandten weiß ich nichts.«
    Aber Djuric ging auf meine Antwort nicht ein. Seine kugeligen Augen waren nach wie vor auf mein Gesicht geheftet wie der Scheinwerfer eines Wachtturms. Schließlich senkte er den Kopf und sagte, während er sich den Nacken massierte: »Schon merkwürdig, dieser Eindruck.«
    Ich öffnete die Tür, um ihm nicht die Hand schütteln zu müssen, und Djuric sagte zum Abschluß: »Viel Glück, Antioche. Aber halten Sie sich an Ihre Störche. Die Menschen verdienen Ihre Aufmerksamkeit nicht, egal, ob sie Roma sind oder gadsche.«

15
     
    Um 21 Uhr 30 betrat ich in Begleitung von Marcel und Yeta den Bahnhof von Sofia. Eine Art Nebel trieb in der Luft, goldschimmernd, schwebend, höchst wundersam. Hoch oben in der riesigen Halle hing eine metallene Uhr in Spiralform, deren Zeiger sich im Rhythmus der ein- und ausfahrenden Züge ruckweise fortbewegten. Unten am Boden herrschte ein dichtes Gewühl: Touristen, die sich mit schweren Koffern mühten und sich gruppenweise und ratlos vorwärts schoben, lehm- und ölverschmierte Arbeiter, mit leerem Blick vor sich hin starrend, Mütter mit bunten Kopftüchern, die eine Kinderschar in abgerissenen Shorts und Sandalen hinter sich herzerrten, Soldaten in Khakiuniform, stockbetrunken, schlingernd wie ein Schiff und grölend. Vorherrschend aber waren die Roma. Schlafend auf Bänken, zu Gruppen geballt auf den Bahnsteigen, sogar auf den Gleisen lagerten sie, tranken Wodka und aßen Würste. Überall wimmelte es von Frauen mit goldbestickten Tüchern, Männern mit Gesichtern wie aus Eichenrinde, halbnackten Kindern, gleichgültig gegen Fahrpläne, Züge und alle, die ihrem Reiseziel hinterherrannten, ihrem Traum oder ihrer Arbeit.
    Weitere, weniger auffällige Details tauchten auf. Strahlende Farben, Filzmützen, schrille Musik, die aus Kofferradios plärrte; auf den Bahnsteigen wurden Erdnüsse verkauft. Auf dem Bahnhof von Sofia begann der Orient, das wuselnde Leben von Byzanz. Die Welt der Hamame, der goldenen Kuppeln, der blauen Fayencen und Arabesken, der Weihrauchschwaden und geschmeidigen Hüften der Tänzerinnen. Hier begannen der Islam, die aufragenden Minarette und klagenden Gebetsrufe der Muezzine. Aus Venedig und Belgrad führte der Weg in die Türkei über Sofia: hier war der große Wendepunkt, die entscheidende Kehre des Orientexpreß.
    »Antioche ... Antioche ... komischer Name für eine französische Familie. Antiochia hieß eine alte türkische Stadt«, rief Marcel, indes er mit flottem Schritt hinter mir hereilte.
    Nur mit halbem Ohr bei der Sache, antwortete ich: »Wo wir herkommen, weiß kein Mensch .«
    »Antiochia ... Wenn du schon in der Türkei bist, dann fahr doch auf einen Sprung dort vorbei, die Stadt liegt an der syrischen Grenze und heißt heute Antakya. In der Antike war sie eine riesige Stadt, nach Rom und Alexandria die drittgrößte des Römischen Reichs! Ihr Glanz ist heute dahin, aber sie hat immer noch ein paar hochinteressante Sehenswürdigkeiten zu bieten .«
    Ich gab

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