Der Flug der Stoerche
kompromittierender Weise mit einem Goj sehen lassen. Also küßte ich sie zum Abschied und machte mich in entgegengesetzter Richtung auf den Weg zum Flughafen Ben- Gurion.
Eine Strecke von ungefähr dreihundert Kilometern lag vor mir. Als der Tag anbrach und das Licht zunahm, fuhr ich schneller. In der Nähe von Nablus lernte ich eine andere israelische Wirklichkeit kennen: eine militärische Straßensperre hielt mich auf. Paßkontrolle. Verhör. Den Gewehrlauf vor Augen, erklärte ich ein weiteres Mal den Grund meiner Reise. »Störche? Was soll das heißen?« In einer schwach beleuchteten Hütte mußte ich weitere Fragen beantworten. Schlaftrunkene Soldaten mit Helm und kugelsicheren Westen warfen einander ungläubige Blicke zu, bis ich Böhms Fotos hervorholte und ihnen die schwarzweißen Vögel vor die Nase hielt. Sie brachen in schallendes Gelächter aus. Ich lachte ebenfalls. Daraufhin boten sie mir Tee an. Ich trank ihn rasch aus und machte mich gleich danach wieder auf den Weg, kalten Schweiß auf der Stirn.
Um acht Uhr morgens betrat ich das weitläufige Lagergelände des Flughafens, auf dem sich auch Josse Lenfelds Labor befand. Lenfeld wartete bereits auf mich, ungeduldig ging er vor dem Wellblechtor auf und ab. Der Direktor der Nature Protection Society war ein Phänomen. Noch eines. Aber es nützte ihm nichts, daß er aus Leibeskräften schrie (zweifellos, um den Lärm der Flugzeuge zu übertönen, die über unsere Köpfe hinwegdonnerten), in atemberaubender Geschwindigkeit ein abgehacktes Englisch hervorsprudelte, die Kippa schief auf dem Kopf trug und im Gesicht die Sonnenbrille eines Ganoven - er beeindruckte mich nicht. Nichts konnte mich mehr beeindrucken. Von dem kleinen grauhaarigen Mann, der auf seine Gedanken konzentriert war wie ein Jongleur auf seine Kegel, erwartete ich in erster Linie, daß er meine Fragen beantwortete - ich hatte mich als freier Mitarbeiter einer Ornithologenzeitschrift ausgegeben; mehr wollte ich nicht.
Josse Lenfeld setzte mir zunächst das >ornithologische Problem< Israels auseinander. Jedes Jahr, sagte er, überquerten fünfzehn Millionen Zugvögel das Land, zweihundertachtzig verschiedene Spezies, und verwandelten den Himmel in ein völlig überlastetes Verkehrsnetz. In den letzten Jahren hätten sich zahlreiche Kollisionen zwischen Vögeln und Zivil- oder Militärmaschinen ereignet, mehrere Piloten seien dabei ums Leben gekommen, die Flugzeuge hätten jedesmal einen Totalschaden erlitten, und die Kosten jedes Unfalls beliefen sich auf schätzungsweise fünfhunderttausend Dollar. 1986 habe sich die IAF, die Israel Air Force, zur Ergreifung von Gegenmaßnahmen entschlossen und ihn auf den Plan gerufen. Heute stünden ihm uneingeschränkte Mittel zur Verfügung, und er habe ein >Hauptquartier zur Vogelabwehr< organisiert, damit der Luftverkehr gefahrlos seinen geregelten Gang wiederaufnehmen könne.
Die Besichtigung begann in einem Überwachungsraum im Kontrollturm des zivilen Flughafens. Neben den herkömmlichen Radarschirmen beobachteten zwei Soldatinnen ein weiteres Radargerät, das auf Zugvögel spezialisiert war. Auf dem Schirm tauchten regelmäßig Vogelschwärme in langgestreckten Wolken auf. »Hier wird das Schlimmste verhindert«, erklärte Josse. »Sollte ein Schwarm unvorhergesehen auftauchen, können wir damit die Katastrophe vermeiden. Wissen Sie, diese wandernden Vogelschwärme nehmen manchmal unvorstellbare Ausmaße an.« Lenfeld beugte sich über einen Computer und tippte ein paar Daten ein, woraufhin auf dem Bildschirm eine Landkarte von Israel erschien, auf der, deutlich erkennbar, große Gruppen von Vögeln über das gesamte israelische Staatsgebiet zogen.
»Was sind das für Vögel?« fragte ich.
»Störche«, antwortete Lenfeld. »Sie sind in der Lage, Israel in weniger als sechs Stunden zu überqueren, von Bet She’an bis zum Negev. Übrigens sind entlang den Start- und Landebahnen Geräte aufgestellt, die den Schrei bestimmter Raubvögel nachahmen; auf diese Weise lassen sich größere Gruppenzusammenschlüsse unmittelbar über dem Gelände verhindern. Zusätzlich verfügen wir über abgerichtete Raubvögel - das ist unsere >Stoßtruppe<, die wir im alleräußersten Notfall einsetzen.«
Im Sprechen war Lenfeld weitergegangen. Unter dem Dröhnen der Motoren führte er mich über die Landepisten und überschüttete mich mit gebrüllten Erklärungen, die wechselten zwischen Weltuntergangsstimmung und dem ausgeprägten Stolz, >das
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