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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sein?«
    »Soldaten. Oder Söldner.«
    Sarah ging von mir fort, kreuz und quer durch den Staub, um behelfsmäßige Zielscheiben aufzustellen - Plastikfolien, über Büsche gehängt, verrostete Kanister auf Felsblöcken und ähnliches; dann kam sie zurück, gegen den Wind geduckt, und erklärte mir die Grundlagen des Schießens.
    »Du stehst fest auf beiden Beinen«, begann sie. »Der Arm ist gestreckt, der Zeigefinger liegt seitlich am Lauf.
    Du schaust hier durch die Kimme, den Einschnitt im Visier; die Visierlinie ist die gerade Verbindung zwischen deinem Auge, Kimme, Korn und Ziel. Nach jedem abgefeuerten Schuß fängst du den Rückstoß mit dem Handgelenk auf, von vorn nach hinten. Auf keinen Fall von unten nach oben, wie es dir natürlich vorkäme. Sonst berührt das hintere Ende des Laufs dein Handgelenk. Und auf Dauer verursachst du eine Ladehemmung. Verstehst du, kleiner Goj?«
    Ich nickte und stellte mich in Position, jede ihrer Gesten exakt nachahmend. »Okay, Sarah, ich bin soweit.« Sie streckte die Arme aus, umklammerte die Waffe mit beiden Händen, spannte den Hahn und wartete ein paar Sekunden, dann schrie sie: »Also los!«
    Ein Höllenlärm brach aus. Sarah war eine unvergleichlich gute Schützin. Sogar ich traf meine Ziele. Dann kehrte Ruhe ein, Pulvergeruch hing in der Luft. Zweiunddreißig Schüsse hatten die abendliche Stille zerrissen. »Nachladen!« rief Sarah.
    Synchron wurden die Magazine ausgeworfen, und wir fingen von vorn an. Wieder eine Salve. Wieder dröhnten die Blechkanister. »Nachladen!« wiederholte Sarah. Alles ging immer schneller: die eingeschobenen Magazine, das Klicken des gespannten Hahns, das Zielen. Zwei, drei, vier Magazine schossen wir auf diese Weise leer, die Patronenhülsen flogen uns um die Ohren. Ich war nahezu taub. Meine Glock rauchte, und mir wurde klar, daß sie glühend heiß war - aber mit meinen gefühllosen Händen konnte ich so lange schießen, wie ich wollte, ohne die Hitze fürchten zu müssen.
    »Nachladen!« brüllte Sarah. Jede Empfindung wurde zu einem dumpfen, sinnlichen Genuß. Die Waffe, die explodiert, zuckt, in der Hand zurückschlägt. Der Detonationslärm, der losdonnert, kurz, rund und ohrenbetäubend zugleich. Das kompakte bläuliche Mündungsfeuer, begleitet von beißendem Geruch. Und die entsetzlichen, unwirklichen Verwüstungen, die unsere Waffen im Umkreis von zehn Metern anrichteten.
    »Nachladen!« Sarah bebte am ganzen Körper. Die Patronen fielen ihr aus den Händen. Das Gelände vor ihr war ein einziges Schlachtfeld. Auf einmal empfand ich eine ungeheure Zärtlichkeit für die junge Frau. Ich ließ meine Pistole sinken und ging auf sie zu. Sie erschien mir einsamer denn je, gefangen in einem Rausch der Gewalt, rings um sie nur Rauch und leere Hülsen.
    Inmitten der Zerstörung flogen drei Störche über uns hinweg. Ich sah sie, hell schimmernd und wunderschön im abendlichen Licht. Ich sah, wie Sarah herumfuhr mit blitzenden Augen und wirbelndem Haar. Und ich begriff. Mit rasender Eile legte sie ein neues Magazin ein, lud durch und richtete die Pistole zum Himmel. Drei Detonationen erklangen, gefolgt von absoluter Stille. Wie in Zeitlupe sah ich die Vögel tödlich getroffen abwärts trudeln und in der Ferne mit einem dumpfen, traurigen Laut auf der Erde aufprallen. Ich starrte Sarah an und brachte kein Wort heraus. Sie erwiderte trotzig meinen Blick, dann begann sie schallend zu lachen, den Kopf in den Nacken gelegt. Ein zu lautes, zu vielsagendes, zu erschreckendes Lachen.
    »Die Ringe!« Ich rannte auf die toten Störche zu. Hundert Meter weiter fand ich die Körper, der Sand hatte ihr Blut bereits aufgesogen. Ich untersuchte ihre Beine; sie waren unberingt. Es waren schon wieder, immer noch, dieselben namenlosen Vögel. Als ich langsam zurückkehrte, war Sarah in sich zusammengesunken, sie weinte und wimmerte, ein Felsen der Trauer im Wüstensand.
    In dieser Nacht liebten wir uns noch einmal. Unsere Hände rochen nach Pulver, und in uns war eine erbitterte, leidenschaftliche Wut, wir kämpften um die Erfüllung. Und dann, in der Tiefe der Nacht, erlebten wir die Lust. Sie hob uns hoch wie eine stumpfe Klinge in einer donnernden Woge, in der uns alle Sinne vergingen.

21
     
    Um drei Uhr morgens standen wir auf. Wortlos tranken wir unseren Tee. Draußen waren schon die schweren Schritte der Kibbuzniks zu hören. Mein Angebot, sie zu den Fischteichen zu bringen, lehnte Sarah ab: eine junge Jüdin darf sich nicht in so eindeutig

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